Arrows_down
Arrows_up
« Back to Die Stadt ohne Juden

Die Stadt ohne Juden - pp 95-96

Quote
»Ja, ja, es scheint, als wenn man da in einen höchst komplizierten Mechanismus allzu brutal eingegriffen hätte! Gewisse nicht zu unterschätzende jüdische Eigenschaften fehlen uns ganz bedenklich!«
Dazu ist allerdings zu bemerken, daß der Bruder des Hofrates die Buchhandlung in der Seilergasse besitzt, die sich nur mit dem Vertrieb von Luxusbüchern und Kunstdrucken befaßt. Seit die Juden weg sind, macht er gar keine Geschäfte mehr und sein Bruder, der Hofrat, hat schon zweimal große Summen opfern müssen, um ihn vor dem Bankerott zu bewahren. Und noch etwas, Leo: Ich halte doch immer, in der Früh', wenn ich einkaufe, und im Konzert und in der Oper und der Straßenbahn die Augen und Ohren offen. Und ich höre, wie die Leute immer mehr mit Wehmut an die Vergangenheit zurückdenken und von ihr wie von etwas sehr Schönem sprechen. »Damals, wie die Juden noch da waren«, das kann man täglich zehnmal in allen Tonarten nur in keiner gehässigen, hören. Weißt du, ich glaub', die Leute bekommen ordentlich Sehnsucht nach den Juden!
  95
  96
  No
  No
  No
  No
  (none)
  Seilergasse

Near fragment in time

Quote
Die großen historischen Stile sind ineinander verwachsen, harmonieren ungemein, Gotig grüßt Empire, Barock schwenkt sein lockeres Quellen in Steinwülsten gegen die tapfer verhaltenen Renaissance, breit und alt orgelt das Romanische, auch eine gezogene Zwiegelkuppel fistelt dazwischen mit hohem griechischem Choral. Reich hat das Leben hier Empfindungen abgelagert, die alle zugleich ertönen und Zeugnis ablegen von der gestaltkräftigen Weltverbundenheit dieser Stadt, der gotische Stefansdom, das Standardwerk unermeßlichen Drängens, setzt das Ausrufezeichen dahinter.
pp 115-116 from Wien by Robert Müller

Near fragment in space

Quote
Im Kaufhaus Steffl in der Kärtnerstraße fuhr er mit dem Außenlift nach oben. [...] Hinter dem Tresen der Sky-Bar mixte er sich einen Cocktail. [...] Er setzte sich auf die Terasse. Von hier hatte er einen geradezu familiären Blick über die Innenstadt. Vor ihm ragte der Stephansdom auf. Die Bronzedächer ringsum glänzten in der sinkenden Sonne. Früher war er mit Marie oft hiergewesen. Das schicke Stammpublikum ließ sie von Zeiten träumen, in denen sie reich sein und sich dem Nichtstun ergeben würde, und sie schwärmte vom Weißwein, der ausgeschenkt wurde. Jonas hatte weder für die flotten jungen Leute etwas übriggehabt, noch Maries Begeisterung für den Wein teilen können, denn er trank keinen. Aber es hatte ihm beschauliche Zuversicht bereitet, hier mit ihr zu sitzen, am frühen Nachmittag, wenn das Lokal schwach besucht war und wenn am nächsten Tag eine Reise für sie bevorstand. In Ruhe auf der hölzernen Terasse den gedämpften Geräuschen der Stadt zu lauschen, den Blick auf die alte Kirche gerichtet. Einander ab und zu über den Tisch hinweg den Arm zu streicheln. Es waren sehr private Momente gewesen.
pp 292-293 from Die Arbeit der Nacht by Thomas Glavinic