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Der Weg ins Freie

148271308X
978-1482713084
January 1908
January 1908
QuoteIm erhöhten Erker auf dem grünsamtenen Sofa saß Frau Ehrenberg mit ihrer Stickerei; Else, ihr gegenüber, las in einem Buch. Aus dem tiefern und dunklern Teil des Zimmers, hinter dem Klavier hervor, leuchtete das weiße Haupt der marmornen Isis, und durch die offene Tür floß aus dem benachbarten Zimmer ein heller Streif über den grauen Teppich. Else sah von ihrem Buche auf, durchs Fenster zu den hohen Wipfeln des Schwarzenbergparkes, die sich im Herbstwind regten, und sagte beiläufig: "Man könnt' vielleicht dem Georg Wergenthin telephonieren, ob er heut Abend kommt."

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QuoteDer Sommerhaidenweg lief in den Wald, und Georg nahm den breiten Villenweg, der an dieser Stelle das Tal durchquerend nach abwärts bog. In wenigen Minuten befand er sich auf der Straße, an deren Ende waldesnah, neben bescheidenen, gelben Parterrehäuschen, nur durch die Balkonmansarde mit dem dreieckigen Holzgiebel über jene erhöht, die kleine Villa stand, in der Anna wohnte. Er durchschritt das Vorgärtchen, wo inmitten des Rasens zwischen Blumen -beeten, auf viereckigem Postament, der kleine blaue Tonengel ihn grüßte; den schmalen Gang, neben dem die Küche lag, das kahle Mittelzimmer, auf dessen Boden durch die schadhaften grünen Jalousien Sonnenlinien hinspielten, und trat auf die Veranda. Er wandte sich nach links und warf einen Blick durchs offne Fenster in Annas Zimmer, das er leer fand. Nun ging er im Garten längs der Fliederbüsche und Johannisbeerstauden nach aufwärts, und schon von weitem sah er Anna unter dem Birnbaum auf der weißen Bank sitzen, in ihrem weiten blauen Kleide. Sie sah ihn nicht kommen, schien ganz in Gedanken versunken. Er näherte sich langsam. Noch immer blickte sie nicht auf. Er liebte sie sehr in solchen Augenblicken, da sie sich unbeobachtet wähnte und auf ihrer klaren Stirn unbeirrt die Gütigkeit und der Friede ihres Wesens ruhten. Sonnenkringel zitterten auf dem Kies zu ihren Füßen. Ihr gegenüber, auf dem Rasen, lag schlafend die fremde Bernhardinerhündin. Das Tier war es, das, erwachend, Georgs Kommen zuerst bemerkte. Es erhob sich, und schwerfällig trappelte es Georg entgegen. Jetzt sah Anna auf, und ein beglücktes Lächeln schwebte über ihre Züge. Warum bin ich so selten da, fuhr es Georg durch den Sinn. Warum wohn ich nicht heraußen und arbeite oben auf dem Balkon unter dem Giebel, wo man die hübsche Aussicht auf den Sommerhaidenweg hat? Die Stirne war ihm feucht geworden, so heiß brannte noch immer die Spätnachmittagssonne.

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