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Chucks - pp 93-94

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"Wir sind eine Collage", pflegte sie zu sagen, "wir setzen uns zusammen aus sehr vielen kleinen Einzelheiten, physisch und psychisch, und jeden Tag müssen wir darum kämpfen, dass wir nicht auseinanderfallen, dass davon nichts verloren geht, dass wir bleiben, wer wir sind. Genauso", dann in dozierendem Tonfall, "genauso müssen wir uns davor schützen, dass jeder Müll an und kleben bleibt wie die Flugblätter, die regelmäßig vor der Universität auf den Asphalt fallen. Und das Wichtigste ist, geh dort nie unter dem Dachsims des Gebäudes entlang, da kacken die Tauben im Akkord herunter."
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Near fragment in time

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Leo Zelman beschrieb das Verhalten der österreichischen Bevölkerung gegenüber ihm als Juden pragmatisch anhand zweier Sequenzen: einer Begegnung mit dem Onkel einer Bekannten, in deren Haus er zum Essen eingeladen war.
„ […] hab ich kennen gelernt eine richtige = [lacht] Lotte, hat sie geheißen. Mädchen, dass ich mich dran erinnere. Und ihre Mutter ist zu mal gekommen und hat gesagt, Ich hab von Ihnen gehört, kommen Sie doch mal zu Weihnachten. Nach Hause zu uns in die Herrengasse. Und ich hab schon damals gewohnt am Schotten=, nicht am Schottenring, sondern am Rudolfsplatz Und ich bin dort hingekommen, natürlich auch ein Care-Paket mitgenommen, und dort konnte= der hat nicht mehr gelebt, er ist gefallen, und der Onkel ist gekommen. Und der Onkel hat schon getrunken war eines= das hat mich damals so angeekelt, seit damals trink ich keinen Wein. Und dreht sich um „Von wo bist du?“, sag ich „Ich bin von Lodz“. Wahrscheinlich hat er geglaubt, dass ich ein Volksdeutscher bin, ich hab schon ein bisschen deutsch gesprochen. Sagt er [laut am Anfang], „Na, in Lodz haben‘s wir den Juden dort gezeigt!“[laut Ende] Ich bin so blass geworden, so erschocken worden, es war ein kalter Winder, von der Herrengasse bis am Rudolfsplatz gelaufen ohne Mantel, ist mir nachgelaufen, äh, die - Lotte ist mir nachgelaufen mit dem Mantel ich bin, äh, ohne Mantel weggerannt aber ganz 0 äh […?] ich war ganz nervenschwach, hab nicht schlafen können.
pp 122 from Rückkehr in die Außenwelt: Öffentliche Anerkennung und Selbstbilder von KZ-Überlebenden in Österreich by Melanie Dejnega

Near fragment in space

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Ich befolgte Tamaras Rat und ging nie zu nah an der Hauswand des Universitätsgebäudes entlang, wo oben auf dem Dach die Tauben saßen, sondern so direkt und schnell wie möglich hinein, Obwohl ich keinen Schulabschluss hatte, besuchte ich immer wieder Vorlesungen, von denen ich dachte, dass sie mich interessieren könnten. Einmal saß ich in der philosophischen Fakultät in einem Seminar für Psychoanalyse, vielleicht nur weil es draußen kalt war.
"Wer war Sigmund Freud?", wollte der Vortragende vom Auditorium der Einführungsveranstatung wissen.
"Ein genitalfixierter Frauenfeind", gab ich zur Antwort.
Gelächter aus der Tussifraktion links von mir à la "Iiiih, sie hat 'genital' gesagt." Ich war sehr versucht, ihnen die Zunge rauszustrecken.
Oft ging ich einfach in irgendeinen Hörsaal, ohne zu wissen, welche Vorlesung gerade gehalten wurde, und amüsierte mich damit, anhand des Vortrages und des Aussehens und Verhaltens der Studentinnen auf die Fakultät, das Institut, und dann sogar auf das Thema der Lehrveranstaltung zu schließen.
Es gibt zwei Arten von Lehrveranstaltungen, die man problemlos, ohne angemeldet zu sein, besuchen kann: solche mit zu vielen Studenten und solche mit zu wenigen. Bei den ohnehin zahlreich vorhandenen Zuhörern fällt man nicht weiter auf, und die Vortragenden mit schlecht besuchten Vorlesungen freuen sich über jede weitere Person, ohne nachzufragen, ob man überhaupt berechtigt ist, ihnen zuzuhören.
Mich interessierten vor allem Physik, Chemie und Medizin, und am allermeisten freute ich mich, wenn durch Zufall etwas angesprochen wurde, das Tamara schon mal erwähnt hatte.
Aber ich ging auch aus einem weiteren, ziemlich einfachen Grund zur Universität: Ein Vortragender hatte irgendwann erklärt, die Universität sei ein Ort der Begegnung. Ich aber schätzte vor allem den einfachen Zugang zu Hygieneeinrichtungen. Und einmal, nach einem Seminar über Psychoanalyse, reichte die Schlange vor dem WC bis auf den Gang. Vor mir stand ein Schneewittchen für die Toilette an. Ich hielt meine Hände an der Leine, damit sie ihr nicht über das Haar strichen. Ihr bordeauxroter Schal teilte die Farbe ihrer Lippen. Dass Schneewittchen Reeboks trug, brach das Bild auf, holte sie zurück auf den Boden und mich in die Realität. Schneewittchen lächelte. Es kroch der Geruch nach altem Urin unter unseren Nasen vorbei. Ich hatte das Gefühl, wir wären tief gefallen, wir beide, als müsste ich heute an einem anderen Grund an derselben Stelle stehen und könnte nicht sagen, warum.
pp 122-124 from Chucks by Cornelia Travnicek