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Rückkehr nach Wien - pp 106-107
Es gibt, natürlich, immer noch die Oper. Sie ist aus ihrem zerstörten Haus am Ring ausgezogen und spielt jetzt in dem kleinen, aber weit älteren und reizvolleren Theater an der Wien, in dem einst die Uraufführung des „Fidelio“ stattfand.
Near fragment in time
In der Salvatorgasse, dem Eingange des alten Maigstratsgebäudes gegenüber, steht ein hl. Christophorus. Wenige Wiener wissen, daß dieser kräftige Mann mit dem Stocke in der Hand den hl. Christoph vorstellen soll; viele halten diese Statue für das Bild eines schlichten Bauern.
Der hl. Christophorus und die Eselin, welche Christus bei dem Einzüge in Jerusalem getragen hatte, gingen einst in die weite Welt, um sich am Reisen zu erfreuen. Der Zufall wollte, daß beide in Wien in einem Gasthause auf der Mariahilferstraße zusammenkamen. Die Freude des unverhofften Wiedersehens in Wien war groß, und beide erzählten einander, woher sie kamen, wohin sie wollten und was ihnen auf der Reise alles begegnet sei. Und so gab ein Wort das andere und leider kamen beide dabei in Streit hinsichtlich der Frage, wessen Verdienst das größere sei, das des hl. Christophorus, der den Herrn als Jesukindlein getragen, oder das der Eselin, die Christum als Lehrmeister der Menschheit nach Jerusalem gebracht hat. Sie konnten sich nicht einigen, und weil keins nachgab, so wurde der Wortwechsel schärfer und derber; ein spitzes Wort um das andere flog bald hinüber bald herüber, so daß endlich dem hl. Christophorus der Geduldfaden riß; flugs holte er mit der Hand aus und gab der Eselin einen Schlag ans Ohr, daß sie unter den Tisch fiel. Sie raffte sich aber schnell auf, warf einen zornwütigen Blick auf den Heiligen, und sagte: So, jetzt verklage ich dich bei dem Stadtrat - und lief nun, was sie laufen konnte, schnurstracks in die innere Stadt in den Magistrat. Der hl. Christophorus zögerte auch nicht, sondern lief der Eselin nach, und als er sah, daß sie in ein Haus in der Salvatorgasse rannte, so stellte er sich diesem Hause gegenüber auf und wartete, bis die Eselin wieder herauskäme. Und so steht denn der hl. Christophorus noch immer an dieser Stelle und wartet der Eselin, doch diese hat bis heute noch nicht das Magistratsgebäude der Stadt Wien verlassen.
pp 46- from Der hl. Christophorus in der Salvatorgasse in Wien by
Der hl. Christophorus und die Eselin, welche Christus bei dem Einzüge in Jerusalem getragen hatte, gingen einst in die weite Welt, um sich am Reisen zu erfreuen. Der Zufall wollte, daß beide in Wien in einem Gasthause auf der Mariahilferstraße zusammenkamen. Die Freude des unverhofften Wiedersehens in Wien war groß, und beide erzählten einander, woher sie kamen, wohin sie wollten und was ihnen auf der Reise alles begegnet sei. Und so gab ein Wort das andere und leider kamen beide dabei in Streit hinsichtlich der Frage, wessen Verdienst das größere sei, das des hl. Christophorus, der den Herrn als Jesukindlein getragen, oder das der Eselin, die Christum als Lehrmeister der Menschheit nach Jerusalem gebracht hat. Sie konnten sich nicht einigen, und weil keins nachgab, so wurde der Wortwechsel schärfer und derber; ein spitzes Wort um das andere flog bald hinüber bald herüber, so daß endlich dem hl. Christophorus der Geduldfaden riß; flugs holte er mit der Hand aus und gab der Eselin einen Schlag ans Ohr, daß sie unter den Tisch fiel. Sie raffte sich aber schnell auf, warf einen zornwütigen Blick auf den Heiligen, und sagte: So, jetzt verklage ich dich bei dem Stadtrat - und lief nun, was sie laufen konnte, schnurstracks in die innere Stadt in den Magistrat. Der hl. Christophorus zögerte auch nicht, sondern lief der Eselin nach, und als er sah, daß sie in ein Haus in der Salvatorgasse rannte, so stellte er sich diesem Hause gegenüber auf und wartete, bis die Eselin wieder herauskäme. Und so steht denn der hl. Christophorus noch immer an dieser Stelle und wartet der Eselin, doch diese hat bis heute noch nicht das Magistratsgebäude der Stadt Wien verlassen.
Near fragment in space
Im Institut für Publizistik fiel mir eine kleine, dunkelhaarige Studentin auf, die immer eine Kopfbedeckung trug. Hin und wieder war es eine Kappe oder ein Schiffchen, aber meist war es ein Hut. Das gab ihr eine besondere Note. Niemand sonst trug einen Hut. Ich suchte ihre Nähe. In Lehrveranstaltungen saß ich immer hinter ihr und betrachtete ihren Hut. Sie musste mindestens zehn hüte besitzen. So verschieden sie auch geformt waren, eines hatten sie gemeinsam, sie waren alle schwarz. Die Studentin kam immer allein. So wie ich schien sie niemanden bei der Publizistik zu kennen. Sie setzte sich in die Mitte der Bankreihe. Diejenigen, die neben ihr Platz nahmen, grüßte sie beiläufig, aber sie sprach nicht viel mit ihnen. Aus den wenigen Wortfetzen, die ich aufschnappte, schloss ich, dass sie aus Deutschland kam. Es war nicht zu übersehen, dass sie geschminkt war. Auch darin unterschied sie sich von den meisten anderen. Wenn sie den geflochtenen Basthut mit der breiten Krempe trug, hielten die Nachbarn größeren Abstand. Ihr Hut vollführte während der gesamten Lehrveranstaltung eine Kippbewegung, wie eine Kinderwippe. Zeigte die hintere Krempe nach oben, schrieb die Studentin mit, zeigte sie nach unten, schaute die Studentin den Professor an. Es gelang mir nicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. In einem Proseminar achtete ich darauf, durch welche Hände die Anwesenheitsliste zu mir kam, und zählte dann die Namen zurück. Sie hatte M. Madonick auf die Liste geschrieben.
Im Vorbeigehen sah ich sie einmal im Cafe Maximilian an einem Fensterplatz sitzen. Sie nahm aus einer grünen Packung eine lange Zigarette und zündete sie an. Diese Zigarettensorte gab es in Österreich nicht. Ich ging weiter, blieb dann aber stehen und zündete mir ebenfalls eine Zigarette an. In einem Schaufenster lagen medizinische Geräte: Inhalationsapparate, Sezierbesteck und bogenförmige Zangen aus Edelstahl, die ich keinem besonderen Zweck zuordnen konnte. Daneben standen kleine Kärtchen mit lateinischen Aufschriften, die von der Sonne so ausgebleicht waren, dass man sie nur noch mit Mühe entziffern konnte. Auf den Geräten hatte sich Staub abgelagert. Ich rauchte die Zigarette zu Ende, dann ging ich zurück. M. Madonick spielte mit ihrem dünnen Silberring. Sie drehte ihn, als wollte sie eine Inschrift lesen. Der Ring war nicht ganz rund. Er war vielleicht acht- oder zehneckig. Die Augen von M. Madonick waren durch die Hutkrempe verdeckt. Sie blickte nicht auf. Der Platz ihr gegenüber war nach wie vor frei. Vor dem Eingang zum Kaffehaus blieb ich stehen. Ich scheute die Prozedur des Ansprechens und das falsche Herumgerede, das damit verbunden war. Ist hier noch frei? Kennen wir uns nicht? Du studierst doch auch Publizistik? Warum sollte ich so blöde Fragen stellen, wenn ich doch alles über sie wusste, was man vom Beobachten wissen konnte. Ich könnte sie fragen, warum sie einen bestimmten Hut, nämlich den, den sie auch heute trug, allen anderen vorziehe. Ich könnte sie fragen, warum sie so oft Kleider trage. Ich könnte sie fragen, was sie an weißen Strumpfhosen und Pumps so attraktiv finde? Aber wollte ich das wirklich wissen? Waren das fragen, die mich ernsthaft beschäftigten? Soll sie doch tragen, was sie will. Ich werde einfach auf sie zugehen und sagen: Ich habe dich ein halbes Jahr lang beobachtet, und jetzt möchte ich wissen, ob du wirklich so interessant bist, wie du auf mich wirkst. Aber das tat ich nicht. Ich betrat nicht einmal das Kaffeehaus.
Im zweiten Semester saß ich noch immer in den Proseminaren für Anfänger, während M. Madonick offenbar ihre Prüfungen abgelegt hatte und nun andere Veranstaltungen besuchte. Ich sah sie nur noch bei der Hauptvorlesung im Auditorium maximum, zu der sie manchmal mit einer Freundin kam. Auch die Freundin war auffällig. Sie hatte einen enorm großen Busen. So groß, dass es ihr die Schultern nach vorne zog. Jedenfalls wirkte es so, wenn ich sie von hinten betrachtete. Mein Blick ruhte auf diesem Paar. Linker Hand die Hutbewegungen über einem aufrechten Rücken, daneben ein Katzenbuckel, über die lange, brünette Haare herabfielen. Auch im zweiten Semester lernte ich M. Madonick nicht kennen. Das geschah erst zu Beginn des dritten Semesters. Ich kam ins Publizistikinstitut, um die Mitteilungen auf der Anschlagtafel zu lesen und zu sehen, was es neues gab. M. Madonick kam aus dem Sekretariat heraus, schaute mich an und grüßte mich. Ich grüßte zurück. Ihre Haare waren nun kürzer. Bei den Wangen bildeten sich zwei nach vorne ragende Spitzen.
pp 173-175 from Das Vaterspiel by
Im Vorbeigehen sah ich sie einmal im Cafe Maximilian an einem Fensterplatz sitzen. Sie nahm aus einer grünen Packung eine lange Zigarette und zündete sie an. Diese Zigarettensorte gab es in Österreich nicht. Ich ging weiter, blieb dann aber stehen und zündete mir ebenfalls eine Zigarette an. In einem Schaufenster lagen medizinische Geräte: Inhalationsapparate, Sezierbesteck und bogenförmige Zangen aus Edelstahl, die ich keinem besonderen Zweck zuordnen konnte. Daneben standen kleine Kärtchen mit lateinischen Aufschriften, die von der Sonne so ausgebleicht waren, dass man sie nur noch mit Mühe entziffern konnte. Auf den Geräten hatte sich Staub abgelagert. Ich rauchte die Zigarette zu Ende, dann ging ich zurück. M. Madonick spielte mit ihrem dünnen Silberring. Sie drehte ihn, als wollte sie eine Inschrift lesen. Der Ring war nicht ganz rund. Er war vielleicht acht- oder zehneckig. Die Augen von M. Madonick waren durch die Hutkrempe verdeckt. Sie blickte nicht auf. Der Platz ihr gegenüber war nach wie vor frei. Vor dem Eingang zum Kaffehaus blieb ich stehen. Ich scheute die Prozedur des Ansprechens und das falsche Herumgerede, das damit verbunden war. Ist hier noch frei? Kennen wir uns nicht? Du studierst doch auch Publizistik? Warum sollte ich so blöde Fragen stellen, wenn ich doch alles über sie wusste, was man vom Beobachten wissen konnte. Ich könnte sie fragen, warum sie einen bestimmten Hut, nämlich den, den sie auch heute trug, allen anderen vorziehe. Ich könnte sie fragen, warum sie so oft Kleider trage. Ich könnte sie fragen, was sie an weißen Strumpfhosen und Pumps so attraktiv finde? Aber wollte ich das wirklich wissen? Waren das fragen, die mich ernsthaft beschäftigten? Soll sie doch tragen, was sie will. Ich werde einfach auf sie zugehen und sagen: Ich habe dich ein halbes Jahr lang beobachtet, und jetzt möchte ich wissen, ob du wirklich so interessant bist, wie du auf mich wirkst. Aber das tat ich nicht. Ich betrat nicht einmal das Kaffeehaus.
Im zweiten Semester saß ich noch immer in den Proseminaren für Anfänger, während M. Madonick offenbar ihre Prüfungen abgelegt hatte und nun andere Veranstaltungen besuchte. Ich sah sie nur noch bei der Hauptvorlesung im Auditorium maximum, zu der sie manchmal mit einer Freundin kam. Auch die Freundin war auffällig. Sie hatte einen enorm großen Busen. So groß, dass es ihr die Schultern nach vorne zog. Jedenfalls wirkte es so, wenn ich sie von hinten betrachtete. Mein Blick ruhte auf diesem Paar. Linker Hand die Hutbewegungen über einem aufrechten Rücken, daneben ein Katzenbuckel, über die lange, brünette Haare herabfielen. Auch im zweiten Semester lernte ich M. Madonick nicht kennen. Das geschah erst zu Beginn des dritten Semesters. Ich kam ins Publizistikinstitut, um die Mitteilungen auf der Anschlagtafel zu lesen und zu sehen, was es neues gab. M. Madonick kam aus dem Sekretariat heraus, schaute mich an und grüßte mich. Ich grüßte zurück. Ihre Haare waren nun kürzer. Bei den Wangen bildeten sich zwei nach vorne ragende Spitzen.