« Back to Die Arbeit der Nacht
Die Arbeit der Nacht - pp 385-

In stetem Rhythmus die Pedale tretend, fuhr er über den Zentralfriedhof. Neben ihm klapperte der Spaten, den er bei der Friedhofsgärtnerei aufgepackt hatte, gegen das Gestänge der Rikscha. Sanfter Wind blies, und die Sonne hatte sich hinter eine kleine Wolkenbank verzogen, was die Fahrt noch angenehmer machte. Im Gegensatz zu jener in der Stadt empfand er die Stille dieses Ortes als beruhigend. Zumindest schüchterte sie ihn nicht ein.
Near fragment in time

Leo Zelman beschrieb das Verhalten der österreichischen Bevölkerung gegenüber ihm als Juden pragmatisch anhand zweier Sequenzen: einer Begegnung mit dem Onkel einer Bekannten, in deren Haus er zum Essen eingeladen war.
„ […] hab ich kennen gelernt eine richtige = [lacht] Lotte, hat sie geheißen. Mädchen, dass ich mich dran erinnere. Und ihre Mutter ist zu mal gekommen und hat gesagt, Ich hab von Ihnen gehört, kommen Sie doch mal zu Weihnachten. Nach Hause zu uns in die Herrengasse. Und ich hab schon damals gewohnt am Schotten=, nicht am Schottenring, sondern am Rudolfsplatz Und ich bin dort hingekommen, natürlich auch ein Care-Paket mitgenommen, und dort konnte= der hat nicht mehr gelebt, er ist gefallen, und der Onkel ist gekommen. Und der Onkel hat schon getrunken war eines= das hat mich damals so angeekelt, seit damals trink ich keinen Wein. Und dreht sich um „Von wo bist du?“, sag ich „Ich bin von Lodz“. Wahrscheinlich hat er geglaubt, dass ich ein Volksdeutscher bin, ich hab schon ein bisschen deutsch gesprochen. Sagt er [laut am Anfang], „Na, in Lodz haben‘s wir den Juden dort gezeigt!“[laut Ende] Ich bin so blass geworden, so erschocken worden, es war ein kalter Winder, von der Herrengasse bis am Rudolfsplatz gelaufen ohne Mantel, ist mir nachgelaufen, äh, die - Lotte ist mir nachgelaufen mit dem Mantel ich bin, äh, ohne Mantel weggerannt aber ganz 0 äh […?] ich war ganz nervenschwach, hab nicht schlafen können.
pp 122 from Rückkehr in die Außenwelt: Öffentliche Anerkennung und Selbstbilder von KZ-Überlebenden in Österreich by
„ […] hab ich kennen gelernt eine richtige = [lacht] Lotte, hat sie geheißen. Mädchen, dass ich mich dran erinnere. Und ihre Mutter ist zu mal gekommen und hat gesagt, Ich hab von Ihnen gehört, kommen Sie doch mal zu Weihnachten. Nach Hause zu uns in die Herrengasse. Und ich hab schon damals gewohnt am Schotten=, nicht am Schottenring, sondern am Rudolfsplatz Und ich bin dort hingekommen, natürlich auch ein Care-Paket mitgenommen, und dort konnte= der hat nicht mehr gelebt, er ist gefallen, und der Onkel ist gekommen. Und der Onkel hat schon getrunken war eines= das hat mich damals so angeekelt, seit damals trink ich keinen Wein. Und dreht sich um „Von wo bist du?“, sag ich „Ich bin von Lodz“. Wahrscheinlich hat er geglaubt, dass ich ein Volksdeutscher bin, ich hab schon ein bisschen deutsch gesprochen. Sagt er [laut am Anfang], „Na, in Lodz haben‘s wir den Juden dort gezeigt!“[laut Ende] Ich bin so blass geworden, so erschocken worden, es war ein kalter Winder, von der Herrengasse bis am Rudolfsplatz gelaufen ohne Mantel, ist mir nachgelaufen, äh, die - Lotte ist mir nachgelaufen mit dem Mantel ich bin, äh, ohne Mantel weggerannt aber ganz 0 äh […?] ich war ganz nervenschwach, hab nicht schlafen können.
Near fragment in space

Wir trinken hastig, dann besteigen wir den Autobus, der uns zur Stadt bringen soll.
[...]
Auf dieser Ausfallstraße, vorbei am Palais Metternich, werden wir jetzt ins Zentrum gefahren. Das britische Flugfeld bildet eine Enklave in der Sowjetzone von Österreich. An seiner Ausfahrt stehen die ersten russischen Wachen in hohen Schafsfellmützen. Ihre und ihrer Kameraden Anwesenheit in diesem Vorort Schwechat raubt ihm den letzen Rest europäischer Zugehörigkeit.
Ein unebener Fahrweg mit gelber lehmiger Erde, wo die Sonne den Schnee geschmolzen hat, führt an einstöckigen Häusern vorbei, die vom Krieg beschädigt sind oder längst zerfallen. Eine Holzbrücke spannt sich über den Fluss, der hier ein schmales Gerinnsel bildet, darüber rattert ein kleiner Karren mit Sowjetsoldaten, gezogen von zwei struppigen Ponys – eine Art Bauernfuhrwerk das in den nördlichen und östlichen Provinzen der Monarchie „Panjewagerl“, hieß, der Wagen des Panje oder Herrn. Unter diesem Namen, der mir plötzlich aus vielen Schichten des Vergessens ins Bewußtsein kommt, wird man es wohl in Wien noch kennen.
Vor dem Weichbild der Stadt und nach der alten Brauerei, die seit mehr als einem Jahrhundert das berühmte Schwechater Bier erzeugt, steht eine hözerne Triumphpforte. Sie ist grell bunt behangen mit Drucken von Lenin und Stalin; in ihrer billigen Einfalt erinnern sie an jene Heiligenbildchen, mit denen uns unsere Katecheten, zumeist jüngere Bauernsöhne, in der Volksschule für ein brav aufgesagtes Gebet belohnten.
Vorbei an den ersten der vier Friedhöfe, auf denen wien zu Allerseelen seine makabren Feste feiert. Hier liegen die Eltern meines Vaters. Ich aber denke an den siebzehnjährigen Knaben, den wir 1930 begruben, als er sich in einer jener unerklärlichen Launen junger Mitteleuropäer erschoß. Ich sehe seine Beerdigung: die Eltern zernichtet vor Schmerz, seine Schwester, ein wunderschönes Mädchen, das ihm, wie Laertes der Ophelia, ins Grab nachstürzen will, und rundum ein Kreis frühreifer und verwirrter Freunde, aschgrau vor Entsetzen über ihren eigenen Seelenzustand, der hier zum Äußersten getrieben war. Aus einem Land kommend, wo Cricket den Cafard besiegt, schaudere ich bei dem Gedanken an das überhitzte, hysterische Klima, in dem wir großgeworden sind. Selbst um den Preis jener Empfindungskraft, die uns damals erfüllte, erhoffe ich mir für meine Kinder ein ruhigeres Erwachsenwerden in Englands reinerer Luft.
Die verblichene rote „Elektrische“, die wir überholen, trägt die Nummer 71. Sie führt an der Kirche zu Mariae Geburt vorbei, in der ich in der Jugend – zum letzen Mal vor der Reifeprüfung – mit schwindender Überzeugung beichtete und kommunizierte. Sie hat mich jahrelang zur Schule gebracht, später auf die Universität und in die literarischen Cafés. Das „Fasanenviertel“ in dessen Nähe ich damals wohnte, scheint fast völlig zerstört, freilich weniger durch Bomben, wie mir erklärt wird, als durch Artilleriebeschuß.
Die große Kaserne aus der Kaiserzeit, in der einst die Feldhaubitzenbatterie meines Vaters lag, dann die Wehrmacht hauste und jene schweren Angriffe auf sich zog, beherbergt jetzt die 14. Coy. RASC der Briten – wir sind, ohne es zu bemerken, in ihre Zone gelangt. Die fensterlosen Wohnhäuser der Gegend, die Läden, das kleine Hotel Nagler von üblem Ruf und die elektrische Uhr an der Kreuzung sind nur noch ausgeblasene Hüllen. Ein Blick in die Seitengasse, in der ich fünfzehn Jahre lang zu Hause war, erweckt in mir kein Heimatgefühl.
[…]
Aber der Autobus reißt uns weiter, vorbei an einem Anblick, der mir lange lieb gewesen war. Die Salesianerkirche, in den Himmel gezeichnet mit der vollkommensten Barockkontur, hat das Verhängnis ohne Schaden überstanden. Ihre unendliche Anmut greift mir ans herz. Umhergeschüttelt wie auf einem stürmischen Meer, abwechselnd abgestoßen und angezogen, verbringe ich den Rest der Fahrt. Wir erreichen das Hotel Astoria im Stadtzentrum durch Straßen voller Schutt.
pp 22-25 from Rückkehr nach Wien by
[...]
Auf dieser Ausfallstraße, vorbei am Palais Metternich, werden wir jetzt ins Zentrum gefahren. Das britische Flugfeld bildet eine Enklave in der Sowjetzone von Österreich. An seiner Ausfahrt stehen die ersten russischen Wachen in hohen Schafsfellmützen. Ihre und ihrer Kameraden Anwesenheit in diesem Vorort Schwechat raubt ihm den letzen Rest europäischer Zugehörigkeit.
Ein unebener Fahrweg mit gelber lehmiger Erde, wo die Sonne den Schnee geschmolzen hat, führt an einstöckigen Häusern vorbei, die vom Krieg beschädigt sind oder längst zerfallen. Eine Holzbrücke spannt sich über den Fluss, der hier ein schmales Gerinnsel bildet, darüber rattert ein kleiner Karren mit Sowjetsoldaten, gezogen von zwei struppigen Ponys – eine Art Bauernfuhrwerk das in den nördlichen und östlichen Provinzen der Monarchie „Panjewagerl“, hieß, der Wagen des Panje oder Herrn. Unter diesem Namen, der mir plötzlich aus vielen Schichten des Vergessens ins Bewußtsein kommt, wird man es wohl in Wien noch kennen.
Vor dem Weichbild der Stadt und nach der alten Brauerei, die seit mehr als einem Jahrhundert das berühmte Schwechater Bier erzeugt, steht eine hözerne Triumphpforte. Sie ist grell bunt behangen mit Drucken von Lenin und Stalin; in ihrer billigen Einfalt erinnern sie an jene Heiligenbildchen, mit denen uns unsere Katecheten, zumeist jüngere Bauernsöhne, in der Volksschule für ein brav aufgesagtes Gebet belohnten.
Vorbei an den ersten der vier Friedhöfe, auf denen wien zu Allerseelen seine makabren Feste feiert. Hier liegen die Eltern meines Vaters. Ich aber denke an den siebzehnjährigen Knaben, den wir 1930 begruben, als er sich in einer jener unerklärlichen Launen junger Mitteleuropäer erschoß. Ich sehe seine Beerdigung: die Eltern zernichtet vor Schmerz, seine Schwester, ein wunderschönes Mädchen, das ihm, wie Laertes der Ophelia, ins Grab nachstürzen will, und rundum ein Kreis frühreifer und verwirrter Freunde, aschgrau vor Entsetzen über ihren eigenen Seelenzustand, der hier zum Äußersten getrieben war. Aus einem Land kommend, wo Cricket den Cafard besiegt, schaudere ich bei dem Gedanken an das überhitzte, hysterische Klima, in dem wir großgeworden sind. Selbst um den Preis jener Empfindungskraft, die uns damals erfüllte, erhoffe ich mir für meine Kinder ein ruhigeres Erwachsenwerden in Englands reinerer Luft.
Die verblichene rote „Elektrische“, die wir überholen, trägt die Nummer 71. Sie führt an der Kirche zu Mariae Geburt vorbei, in der ich in der Jugend – zum letzen Mal vor der Reifeprüfung – mit schwindender Überzeugung beichtete und kommunizierte. Sie hat mich jahrelang zur Schule gebracht, später auf die Universität und in die literarischen Cafés. Das „Fasanenviertel“ in dessen Nähe ich damals wohnte, scheint fast völlig zerstört, freilich weniger durch Bomben, wie mir erklärt wird, als durch Artilleriebeschuß.
Die große Kaserne aus der Kaiserzeit, in der einst die Feldhaubitzenbatterie meines Vaters lag, dann die Wehrmacht hauste und jene schweren Angriffe auf sich zog, beherbergt jetzt die 14. Coy. RASC der Briten – wir sind, ohne es zu bemerken, in ihre Zone gelangt. Die fensterlosen Wohnhäuser der Gegend, die Läden, das kleine Hotel Nagler von üblem Ruf und die elektrische Uhr an der Kreuzung sind nur noch ausgeblasene Hüllen. Ein Blick in die Seitengasse, in der ich fünfzehn Jahre lang zu Hause war, erweckt in mir kein Heimatgefühl.
[…]
Aber der Autobus reißt uns weiter, vorbei an einem Anblick, der mir lange lieb gewesen war. Die Salesianerkirche, in den Himmel gezeichnet mit der vollkommensten Barockkontur, hat das Verhängnis ohne Schaden überstanden. Ihre unendliche Anmut greift mir ans herz. Umhergeschüttelt wie auf einem stürmischen Meer, abwechselnd abgestoßen und angezogen, verbringe ich den Rest der Fahrt. Wir erreichen das Hotel Astoria im Stadtzentrum durch Straßen voller Schutt.