Die Arbeit der Nacht
"Ist hier jemand?" In der weiten Kassenhalle klang seine Stimme lächerlich schwach. Die Zange an der Schulter, stapfte er die Treppe hinauf zur Wartehalle. Die Wechselstube, der Zeitungsladen, die Stehcafés, alles war geschlossen. Er ging hinaus zu den Bahnsteigen. Mehrere Züge standen da wie abfahrbereit. Er ging zurück zur Wartehalle. Wieder hinaus zu den Bahnsteigen. Zurück. Hinaus. Er sprang in den Intercity nach Bregenz. Waggon um Waggon. Abteil um Abteil durchsuchte er den Zug.
Zu Mittag hatte er den letzten Winkel des Bahnhofs erforscht. Alle Züge. Alle Büros der Bundesbahnen. Die Lounge. Das Restaurant, in dem er ein paarmal miserabel gegessen hatte. Das Tabakgeschäft. Das News & Books. Mit der Zange hatte er Scheiben und Glastüren eingeschlagen und heulende Alarmanlagen abgeklemmt. Hinterzimmer von Hinterzimmern hatte er durchsucht.
Das letztemal hatte er den Tiergarten Schönbrunn anläßlich eines Betriebsausfluges besucht. Es war recht fröhlich zugegangen. Viele Jahre lag das zurück. Er konnte sich nur noch vage an schmutzige Käfige erinnern und an ein Café, in dem sie nicht bedient worden waren. In der Zwischenzeit hatte sich viel verändert. In den Zeitungen las man, Schönbrunn sei der schönste Zoo Europas. Jährlich kam eine neue Sensation hinzu. Zwei Koalas etwa oder andere rare Tiere, die alle Wiener, die ein Kind im begeisterungsfähigen Alter hatten, zwangen, in den Tierpark zu pilgern.
Während ihm der Duft vor sich hin garender Würste in die Nase stieg, betrachtete er das erstarrte Riesenrad, das unweit vor ihm aufragte. Oft war er damit gefahren. Das erstemal als Junge, zusammen mit seinem Vater, der von der ungewohnten Höhe vielleicht ebenso eingeschüchter gewesen war wie der Sohn, so daß nicht sicher war, wer wessen Hand fesgehalten hatte. Später war er immer wieder mitgefahren. Mit Freundinnen. Mit Kollegen. Meist am Ende eines Betriebsausfluges, in schon recht kräftiger Stimmung.
Ein von Pollern verschont gebliebener Seiteneingang, bot Gelegenheit, auf das Gelände des Praters zu fahren. Sein erster Weg führte ihn zu einem Würstelstand
Zwanzig Minuten dauerte eine Umdrehung. Hoch oben genossen sie den Ausblick über die Stadt, deren Ampeln, Laternen und Scheinwerfer den späten Abend erhellten. Sie wiesen einander auf Sehenswürdigkeiten hin, die sie seit jeher kannten, die aber durch die Perspektive neu an Reiz gewannen. Jonas schenkte nach. Als sie unten angekommen und die Teller gegen die secondi piatti ausgetauscht worden waren, schimmerten Maries Wangen schon rötlich.
Ein Jahr später erwähnte Marie in einem Gespräch mir unterdrückter Ironie seine romantische Ader. Erstaut fragte er nach, woran diese liege. Sie erinnerte an den Abend auf dem Riesenrad. Und so erfuhr er, daß sie für Dinner im Kerzenschein hoch über Wien ebenfalls wenig übrig hatte. Um ihm Freude zu bereiten, hatte sie die wunderbare Atmosphäre gepriesen, in Wahrheit hatte sie sich nach einem Hocker in der Kneipe mit einem Glas Bier gesehnt.
Er blickte nach links, Richtung Innenstadt, wo da und dort Fenster erleuchtet waren. Der Kern Wiens. Hier hatte sich einmal Weltgeschichte ereignet. Aber sie war weitergezogen, in andere Städte. Geblieben waren breite Straßen, edle Häuser, Denkmäler. Und die Menschen, die nur schwer gelernt hatten, zwischen der alten und der neuen Zeit zu unterscheiden.
Mit schwarzer Farbe schrieb er in riesigen Buchstaben das Wort HILFE auf den Boden des Heldenplatzes.
Im Parlament löste er Alarm aus, als er mit dem Gewehr die Metalldetektorschleuse passierte. Er stellte ihn nicht ab. Im Plenersaal des Nationalrats schoß er auf Tische und Bänke. An Rednerpult und Mikrophon sowie am Sitz des Präsidenten befestigte er je einen Zettel.
Die Sezession umwickelte er so dicht mit schwarzem Klebeband, daß man es für ein Werk von Christo halten konnte. Mit der Dose eines Grafittomalers sprayte er Telefonnummer und Namen in grellem Gelb auf das Band.
Dem Lift im Donauturm vertraute er sich nur zögernd an. Er wollte sich nicht ausmalen, was geschah, wenn der Aufzug steckenblieb. [...] Bis zur Spitze maß der Donauturm zweihundertzwanzig Meter. Als sich die Lifttür wieder öffnete, befand sich Jonas hundertfünfzig Meter über dem Erdboden. Auf dieser Höhe war die Aussichtsterasse. Eine Treppe führte hinauf zum Café. [...] Oft war er mit Marie hergekommen, die die Aussicht liebte und besonders die Kuriosität, daß sich das Café langsam um den Turm herum drehte. Ihm war das immer etwas seltsam erschienen, Marie hingegen hatte sich dafür wie ein Kind begeistert.
In der Betriebszentrale konnte man einstellen, wie lange das Café für die Umdrehug benötigte: 26, 40 oder 52 Minuten. Marie hatte es jedesmal fertiggebracht, daß der zuständige Techniker den Regler auf die 26 stellte. Einmal war der Mann mit der Uniform von ihr so hingerissen gewesen, daß er mit Anekdoten aufgetrumpft hatte, nur damit sie blieb. [...] Er erzählte, man konnte das Café schneller, viel schneller um den Turm drehen. Während der Bauarbeiten hätten die Beschäftigten, unter denen sein Onkel gewesen ist, der wiederum ihm davon berichtet habe, mit dem Mechanismus gespielt. Der Rekord sei bei elf Sekunden für eine Umdrehung gestanden, als sie erwischt worden waren. Seither verhinderte eine Sicherheitssplinte, daß jemand Unfug trieb. Die schnellen Umdrehungen kosteten viel Strom, waren darüber hinaus gefährlich.
Er bog in die Babenberger Straße ein, die in die Mariahilfer Straße mündete. Diese Haupteinkaufszeile der Stadt war ihm nie sympathisch gewesen. Trubel und Hektik stießen ihn ab. Als er nun vor einem Einkaufszentrum hielt, war nichts zu hören als das Knistern unter der Motorhaube. Die einzige Bewegung weit und breit stammte von einem Stück Papier, das der Wind an der nächsten Kreuzung über den Asphalt sausen ließ. Es war heiß. Er trottete zum Eingang des Kaufhauses. Die Drehtür setzte sich in Gang. Mit zwei Reisekoffern, die er in einem Laden im ersten Stock aus einem Schrank gezogen hatte, fuhr er auf der Rolltreppe hinauf zum Elektrogeschäft. Es fiehl ihm schwer zu atmen, so stickig war die Luft. Seit Tagen schien die Sonne auf das Glasdach, ohne daß im Haus ein Fenster geöffnet worden war.
Vor der Millennium-City hielt er nicht an, sondern fuhr direkt in das Gebäude ein. Im Schritttempo ging es vorbei an den Boutiquen, dem Buchladen, dem Juwelier, dem Drogeriemarkt, den Cafés und Restaurants. Wie an einem normalen Arbeitstag war alles offen. Er verzichtete darauf zu hupen.
Bei den Imbißständen und Snackbars fiel ihm aus, wie gründlich zusammengeräumt sie waren.
Vor dem Millennium-Tower, den die Hallen der City umschiegten, mußte er aussteigen, da es in der unteren Etagen keinen öffentlichen Zugang gab. Bepackt mit dem Gewehr, dem Brecheisen und der Kamera mit ihrem Zubehör, fuhr er auf der Rolltreppe nach oben. Einer der Lifte brachte ihn in den zwanzigsten Stock des Turms, dort stieg er um. Die Fahrt nach ganz oben dauerte eine Minute.
Die Büros, die im obersten Stock untergebracht waren, standen offen. Er wählte eines, in dem ein Panoramafenster den besten Ausblick auf die Stadt bot. Er lud seine Last ab und versperrte die Tür.
Als er knapp vor der Fensterscheibe stand, verschlug ihm der Ausblick den Atem. Vor ihm ging es zweihundert Meter abwärts. Die geparkten Autos waren winzig, die Mülleimer und Zeitungsständer daneben als solche kaum noch zu erkennen.
Ein Stativ benötigte er für die zweite Kamera. Er stellte sie am Eingang des Stephansdoms auf, so daß sie dem Haas-Haus zugewandt war, vor dem früher Akrobaten den Touristen ihre Kunststücke vorgeführt hatten. Solchen Spektakeln hatte er nichts abgewinnen können. In der Furcht, gar von einem der Künstler angespielt oder angesungen zu werden, war er mit gesenktem Kopf vorübergehastet.
Nachdem er die Kirche durchsucht hatte und sicher sein konnte, keine Gesellschaft zu haben, widmete er seine Aufmerksamkeit dem Altar der Jungfrau Maria. In Not Geratene richteten ihre Fürbitten meist an sie. Hier steckten die meisten abgebrannten Kerzenstümpfe, hier hatte er früher Dutzende einander fremde Menschen Seite an Seite beten gesehen, Rosenkränze zwirbelnd, die Lippen auf Heiligenbilder pressend, weinend. Von diesem Anblick war ihm unwohl geworden. Er hatte sich kaum auszumalen gewagt, welche Schicksalsschläge die armen Leute hierhergeführt hatten. Vor allem die weinenden jungen Männer verstörten ihn. [...] Ihn quälte es, ihnen nahe zu sein, und dennoch mußte er sich zusammennehmen, nicht zu einem von ihnen hinzutreten und ihm über den gesenkten Kopf zu streichen. War einer ihrer Lieben krank? Hatte jemand sie verlassen? War jemand gestorben? Waren womöglich sie selbst todgeweiht? Hier saß das Leiden, und ringsum schlichen japanische und italienische Touristen und blitzen mit ihren Fotoapparaten, so hatte er es empfunden.
Im Nannini machte er sich einen Espresso. Mit der Tasse setzte er sich an einen der Tische vor der Tür. Rechts von ihm lag das zweistöckige Elektrogeschäft. Links sah er die Übergänge zu weiteren Einkauszeilen. Direkt vor ihm führte die Rolltreppe nach unten, und dahinter ragte der Turm auf. [...] Mit Marie hatte er oft an einem dieser Tische gesessen. Obwohl die Läden der Millennium-City nicht die vornehmste Kundschaft anzogen, hatten sie hier gern eingekauft.
Mit dem Auto auf der Donauinsel voranzukommen war nicht schwierig, doch er fürchtete, etwas Wichtiges zu übersehen. So machte er sich zu Fuß auf den Weg. Bald stieß er auf ein Geschäft, das Fahrräder und Mofas verlieh. Er erinnerte sich, hier zusammen mit Marie eine jener Fahrradkutschen gemietet zu haben, mit denen man durch italienische Badeorte fuhr.
Abgesperrt war nicht. Die Schlüssel für die Mofas hingen and der Wand. An jedem klebte ein Zettel mit der Kennzeichennummer.
Überzeugt, daß ihm von außen keine Überraschungen drohten, ging er am Café vorbei in die Geschäftsstellte des Riesenrads. Die technische Zentrale befand sich hinter einer unauffälligen Tür im Shop, wo den Touristen die Miniausführungen des Riesenrads und anderer Plunder angeboten worden war. Er blickte auf den schultafelgroßen Schaltkasten. Anders als im Donauturm fehlte hier jede Beschriftung. Gleichwohl verstand er bald, daß der gelbe Knopf die Stromversorgung des gesamten Systems ein- und ausschaltete. Nachdem er ihn gedrückt hatte, leuchteten Lampen auf. Eine elektrische Anzeige blinkte. Er drückte einen anderen Knopf. Die unterste Gondel, auf die er von seinem Platz an den Pulten durch ein Schaufenster freie Sicht hatte, setzte sich in Bewegung.
Auf dem Weg zum Frachtenbahnhof Matzleinsdorf, wo sich der Maschinenpark Süd befand, kam er an der Kirche am Mariahilfer Gürtel vorbei. Im Vorbeifahren las er das Transparent, das an ihrer Außenfront festgemacht war: Es gibt einen, der dich liebt - Jesus Christus. Er stieg fester auf das Gaspedal.
Zum zweitenmal an diesem Vormittag kam er an der Pfarrkirche Maria vom Siege vorbei, an deren Fassade ihm ein Transparent versicherte, er würde von Jeses geliebt.
Obwohl ihm der Augarten nicht besonders gefiel, war er hier einige Male gesessen. Mit Marie, die er zum Kino unter Sternen begleiten mußte. Eine Veranstaltungsreihe, die an Sommerabenden unter freiem Himmel auf einer Großleinwand Filme zeigte, in denen er verstohlen gähnte und auf seinem Stuhl rutschte. Marie zuliebe ging er hin. Trank Bier oder Tee, aß am Multikultibuffet, ließ sich von Steckmücken quälen. Gestochen hatten sie ihn so gut wie nie, doch ihr Summen hatte ihn mehr als einmal aus der Fassung gebracht.
Hier im Café, hundert Meter vom Kino und dem nur während der Kinowochen aufgebauten Buffet entfernt, hatte er auf Marie gewartet. Hatte den Spatzen zugesehen, die sich frech auf den Tischen niederließen und nach Eßbarem pickten. Hatte Wespen verscheucht und den kläffenden Pudeln alter Frauen gehässige Blicke zugeworden.
Er betrachtete das Haas-Haus. Betreten hatte er es nie. Mit Marie wollte er das Do&Co besuchen, doch es war nie dazu gekommen.
Er überblickte den leeren Platz. Nahm die Statuen in Augenschein, die allerorts aus den Mauern ragten. Phantasiefiguren , Musikanten. Zwerge. Fratzen. Und am Stephansdom Heilige. Alle schauten über ihn hinweg. Alle waren stumm.
Er hatte den Eindruck, dass ihre Zahl wuchs. Als seien an jenem Tag, an dem er hier das Video aufgenommen hatte, weniger Statuen zu sehen gewesen. Es schien, daß in der ganzen Stadt allmählich mehr und mehr Statuen aus den Hausmauern krochen.
Schwedenplatz. Den Wagen auf den Straßenbahnschienen abgestellt, schrieb er hier die dreizehnte Kamera in seinen Plan. Das bedeutete, es wurde Zeit, sich dem anderen Kanalufer zu widmen. Blitzartig wandte er sich um. Der Wind blies. Das Laub der Bäume neben den Würstelständen raschelte. Starr lag der Platz da. Die Fenster der Apotheke, unbeleuchtet. Der Eissalon. Der Abgang zur U-Bahnstation. Die Rotenturmstraße. Er drehte sich im Kreis. Allerorts Erstarrung.
Auf dem Karmelitermarkt trieben Dutzende Plastik- und Papiertüten, die aus einem der Gemüsestände gerutscht sein mußten, knisternd über den Platz. Jonas bekam ein Staubkorn ins Auge. Es begann zu tränen. In einem Gasthaus, das einladend wirkte, machte er sich ein schnelles Gericht. Dann ging er wieder durch die Straßen. Seit seiner Jugend hatte sich im Bezirk viel verändert. Die meisten Lokale und Geschäfte waren ihm unvertraut.
Den Blick unverwandt auf den Glockenturm des Doms gerichtet, fühlte er plötzlich den Wunsch, ein Kind zu sein. Eines, das Marmeladebrote bekam und Saft. Das auf der Straße spielte und schmutzig heimkam und für eine zerissene Hose gerügt wurde. Und das dann von der Eltern in die Badewanne gesteckt und zu Bett gebracht wurde. Das sich um nichts kümmern und um nichts sorgen mußte. Das keinerlei Verantwortung hatte, weder für sich noch für jemand anderen. Aber vor allem wünschte er sich jetzt ein Marmeladebrot.
Er starrte auf die geschwärzten Mauern des Doms. Dort drüben, unter der Erde, in der Nähe des Altars, befand sich etwas Ungewöhnliches, dessen war er sich sicher. Vielleicht war es nicht gefährlich. Aber jedenfalls handelte es sich um etwas, das er nicht verstand.
Während er zu den Katakomben hinabstieg, versuchte er sich in Erinnerung zu rufen, was er aus seiner Schulzeit und früheren Besuchen noch über den Ort wußte. Viel war es nicht. Er erinnerte sich, daß es zwei Teile gab. Die alten Katakomben aus dem 14. Jahrhundert und die neueren aus dem 18. Der ältere, in dem die Karidnalsgruft lag, befand sich unter der Kirche, der jüngere bereits etwas außerhalb ihres Bereichs. Im Mittelalter hatte dieser Ort als Stadtfriedhof Wiens gedient, der aus Platzmangel dann aufgelassen worden war.
Im Kaufhaus Steffl in der Kärtnerstraße fuhr er mit dem Außenlift nach oben. [...] Hinter dem Tresen der Sky-Bar mixte er sich einen Cocktail. [...] Er setzte sich auf die Terasse. Von hier hatte er einen geradezu familiären Blick über die Innenstadt. Vor ihm ragte der Stephansdom auf. Die Bronzedächer ringsum glänzten in der sinkenden Sonne. Früher war er mit Marie oft hiergewesen. Das schicke Stammpublikum ließ sie von Zeiten träumen, in denen sie reich sein und sich dem Nichtstun ergeben würde, und sie schwärmte vom Weißwein, der ausgeschenkt wurde. Jonas hatte weder für die flotten jungen Leute etwas übriggehabt, noch Maries Begeisterung für den Wein teilen können, denn er trank keinen. Aber es hatte ihm beschauliche Zuversicht bereitet, hier mit ihr zu sitzen, am frühen Nachmittag, wenn das Lokal schwach besucht war und wenn am nächsten Tag eine Reise für sie bevorstand. In Ruhe auf der hölzernen Terasse den gedämpften Geräuschen der Stadt zu lauschen, den Blick auf die alte Kirche gerichtet. Einander ab und zu über den Tisch hinweg den Arm zu streicheln. Es waren sehr private Momente gewesen.
Auf der Salztorbrücke lehnte er sich gegen die Brüstung. Wind trieb ihm Staubkörnen in die Augen. Blinzelnd sah er hinab auf das Wasser. Es schien ihm sauberer als früher. Sich mit ausgebreiteten Armen auf das Gelände stützend, blickte er auf die Uferpromenade hinunter, die mit flachgetretenen Limonadedosen, Zigarettenschachteln, anderem Plastikmüll und Papier übersät war. Im Sommer war er hier mit Marie flaniert. Sie hatten Eis gegessen. Manchmal entschieden sie sich, gleich am Kanal beim Griechen zu Abend zu essen. Mit der Dämmerung kamen die Moskitos. Ihn wollten sie nicht stechen. Marie hingegen hatte kein Mückenöl und keine Duftkerze geholfen, andertags war sie mit Dutzenden roten Beulen erwacht. Er wandte sich mit einem Ruck um. Niemand stnad da. Leise rauschte unter ihm der Donaukanal hinweg.
Er spazierte durch den Belvederegarten, um sich die von der Fahrt steifen Beine zu vertreten. Seine Gedanken wurden wieder wirr. Er klatsche sich die Hände ins Gesicht. Für die nächste Tablette war es noch zu früh. Er begann lieber mit der Arbeit. Mit Hilfe eines Schlittens schaffte er die zwölf Fernseher herbei, die er in einem Elektrogeschäft in der Nähe eingeladen hatte. In gleichbleibender Langsamkeit stellte er einen nach dem anderen nebeneinander auf den Kiesweg.
Dort war die Hofburg, da das Burgtor. Dahinter säumten Bäume die Ringstraße. Rechts ragte ein Denkmal auf. Zwei Basilisken. Kopf an Kopf, Knie an Knie, kämpften und drückten. Aber es sah auch aus, als stützten sie einander.
In der Mitte des Platzes sein Bett. Er fühlte sich wie in einer Filmkulisse. Sogar der Himmel wirkte unecht. In diesem orangenen Halblicht schien alles zwei Seiten zu haben. Die Bäume, die Gitter an den Toren, die Hofburg selbst, alles war natürlich und echt und zugleich von erbarmungsloser Glattheit.
Jonas staunte, wie viele berühmte Persönlichkeiten hier begraben lagen. Bei einigen Namen fragte er sich, wieso er sie in der Prominentenzeile las, denn er hatte nie von ihnen gehört. Bei anderen war er überrascht zu lesen, daß sie erst vor ein paar Jahren gestorben waren, er hatte sie seit Jahrzehnten tot gewähnt. Und bei anderen wiederum wunderte er sich, weil er von ihrem Tod nicht erfahren hatte.
So gut gefiel ihm die langsame Fahrt durch den Park, daß er zeitweise vergaß, weshalb er gekommen war. Er dachte an seine Kindheit zurück, in der er an der Seite seiner Großmutter öfters mit der Straßenbahn hergafahren war, um das Grab der Urgroßeltern zu pflegen. Und später hatte er seine Mutter zum Grab der Großmutter begleitet. Die Mutter hatte Lichter angezündet, Unkraut ausgerissen und Blumen eingesetzt, während er umherspaziert war und den Friedhofsduft eingesogen hatte, diesen typischen Duft nach Stein, Blumen, Erde und frisch gemähtem Gras.
In stetem Rhythmus die Pedale tretend, fuhr er über den Zentralfriedhof. Neben ihm klapperte der Spaten, den er bei der Friedhofsgärtnerei aufgepackt hatte, gegen das Gestänge der Rikscha. Sanfter Wind blies, und die Sonne hatte sich hinter eine kleine Wolkenbank verzogen, was die Fahrt noch angenehmer machte. Im Gegensatz zu jener in der Stadt empfand er die Stille dieses Ortes als beruhigend. Zumindest schüchterte sie ihn nicht ein.
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