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Bis zur Neige - Ein Fall für Berlin und Wien - pp 126-127

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Im Auto öffnete Anna alle Fenster und wählte Kolonjas Nummer. »Und? Was gefunden?« »Das ist eher was für dich. Du bist doch die Belesene. Der schreibt vielleicht schwülstiges Zeug. Dein Weinbauer war ein richtiger Philosoph, aber dass das in dem Kaff verstanden wurde, kann ich mir nicht vorstellen. Ich versteh’s jedenfalls nicht. Ah ja, und zwei Kollegen aus der Abteilung Straßenkriminalität sind schon im Anmarsch, die wurden als Vertretung geschickt.« »Gut, da nehm ich gleich einen mit nach Salchenberg. Ist die Spurensicherung schon zugange?« »Natürlich. Im Weinviertel dürfen die Niederösterreicher ran – viele liebe Grüße übrigens von deinem Freund Kronberger. Und in der Florianigasse haben unsere Kollegen vor ungefähr eineinhalb Stunden angefangen.« »Gut, dann fahr ich da mal vorbei. Die ganzen Bürounterlagen vom Bachmüller, Rechnungsbücher, Korrespondenz, Bestellungen etc., hätte ich gerne so schnell wie möglich bei mir im Büro.« »Jawohl. Glaubst du, es war ein geprellter Restaurantbesitzer?« »Ich glaub gar nichts. Ich fürchte, ich hatte noch nie so wenig Ahnung wie in diesem Fall. Kommt mir vor, als wäre dieser Bachmüller ein Phantom gewesen.« Die Wohnung in der Florianigasse lag im Dachgeschoss eines stilvoll renovierten Altbaus. Als Anna aus dem Aufzug trat, fiel sie fast über den ausgeklappten Stahlkoffer der Spurensicherung. Daneben stand Martin Holzer und aß eine Wurstsemmel. »Na, das sieht ja gemütlich aus. Fertig?« »Fast. Schau da mal rein. Sieht aus wie eine Musterwohnung für einen Einrichtungskatalog. Da gibt es nicht viel zu untersuchen. Gewohnt hat da keiner.« Anna ging einmal durch die lichtdurchflutete Dreizimmerwohnung und war beeindruckt. Eine gesamte Wohnzimmerwand war durch eine Glasfront ersetzt worden, der Blick von der dazugehörigen Dachterrasse war sensationell. Mitten im Raum ein wuchtiges graues Sofa, eine Leselampe und dahinter ein Bücherregal mit einer Heine-Gesamtausgabe und ein paar Bänden Thomas Bernhard, an der Wand ein Bild von Erwin Wurm, im Schlafzimmer ein großes Bett aus hellem Kirschholz mit weinroter Tagesdecke.
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  Florianigasse 45

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Im Anschluss suchte er frisch gestriegelt das k. k. Hof-Naturalienkabinett auf. Nach zwei Weltkriegen und einer untergegangenen Monarchie war es zwar in Naturhistorisches Museum umbenannt worden, doch das Fehlen des Adelstitels tat der Bewunderund Johannes Gerlitzen keinen Abbruch. Kaum dass er den aufsgestopften Hund des Museumsgründers Franz Stephan von Lothringen an der majestätischen Eingangestreppe betrachtet hatte, war er froh, so früh aufgestanden zu sein. Er blieb, bis ihn der Saalwächter nach Hause schickte, und hatte dennoch das Gefühl, nicht lange genug dort gewesen zu sein. Endlich sah Johannes Gerlitzen all die anderen Würmer, die nicht in seinem Darm gewesen waren und von denen er nur gelesen hatte: Bandwürmer, Fadenwürmer, Saugwürmer der Lunge, Saugwürmer der Leber, Schweinelungen gespickt mit Finnen und unzählige mehr. Es gab sogar Mikroskope, an die sich der Beuscher unter den Argusaugen des Saalwächters setzen konnte, um die Körper von Würmern vergrößtert zu bestaunen. Wie fein die Glieder waren! Wie stark ausgeprägt die Fangzähne! Johannes lief es kalt den Rücken herunter bei dem Gedanken, dass sich solche Zähne einst in der Innenwand seines Dünndarms verkeilt hatten. Die meiste Zeit verbrachte er im Saal der wirbellosen Weichtiere, aber er spazierte auch durch die anderen Säle des Obergeschosses. Die Steine und Mineralien im Parterre sparte er aus - inmitten der Vielfalt der Welt hatte er das Gefühl, in St. Peter sein Leben lang genug Steine gesehen zu haben. Manchmal bekam er Atemnot und musste sich setzen. All die Eindrücke überwältigten ihn, und er war überfordert von der Frage, wie er den Rest der Welt bisher hatte ignorieren können. Wie war es möglich, auf diesem gewaltigen Erdball zu leben, und nichts anderes zu kennen als den Ort, in dem man geboren und aufgewachsen war? Johannes Gerlitzen setzte sich auf einen Schemel und atmete tief ein. Im Naturhistorischen Museum roch es intensiv nach Alaun, Aluminiumgerbstoff und Borsäure. Die Saalwächter mussten aus diesem Grund nach einem Arbeitstag zwanzig Minuten mit sehr viel Seife duschen, doch für Johannes Gerlitzen war dies der Duft der Freiheit.
pp 38-39 from Blasmusikpop by Vea Kaiser

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Vom Bennoplatz waren es keine fünf Minuten in die Kochgasse. Bronstein wunderte sich. Dieses Grätzl zählte ohne Frage zu den besseren Wohngegenden Wiens. Wie kam es, dass dort auch arme Schlucker wohnten?
Die Antwort gab ihm die Adresse, die ihm die Jedlicka genannt hatte. In dem vornehmen Wohnhaus aus der Jahrhundertwende gab es einen Innenhof, wo sich eine heruntergekommene Werkstatt befand. Vermutlich waren hier einmal Kutschen und später Automobile repariert worden, nun freilich zeugte nichts mehr von der einstigen Geschäftigkeit. Ein unrasierter, müde und ungepflegt wirkender Mann in Flanellhose und weißem Unterhemd saß auf einer leeren Kiste und rauchte eine Zigarette.
pp 94 from Zores by Andreas Pittler