Don Juan de la Mancha
Mein Vater ist völlig unwichtig. In dem Sinn, dass er sich in meinem Leben nie wichtig gemacht hat. Er war höchstens durch seine Abwesenheit wichtig. Mit achtzehn, zwölf Jahre nachdem Vater von zu Hause ausgezogen war, trennte ich mich von meiner Mutter, zog in eine eigene kleine Wohnung, die so billig war, dass mein Vater bereit war, die Miete zu bezahlen. Es war eine Souterrainwohnung in der Marxergasse im dritten Bezirk, von Familie und Freunden bald nur noch »Marxer Keller« genannt. Als Vater diese Wohnung sah - er begleitete mich zur Unterzeichnung des Mietvertrags -, sagte er: »Ja, die ist bestens.« Das hieß: Er stimmte zu, dass man wohl keine bessere Wohnung für den Betrag bekommen würde, den er bereit war zu zahlen.
Mutter brachte Geschirr und Besteck, Bettwäsche, sogar den Schaukelstuhl, um den wir zu Hause immer gekämpft - was heißt »zu Hause«? Der Marxer Keller war nun mein Zuhause! Um den wir jedenfalls immer gekämpft hatten, solange ich noch bei Mutter wohnte. Den hast du doch so gern, sagte sie. Sie wischte die Küchenschränke aus, räumte das Geschirr ein, überzog das Bett, kaufte im nächsten Supermarkt Grundnahrungsmittel, schwatzte ununterbrochen: Alles wird immer teurer, wie wirst du dir das allein leisten können? Oder: So ein feuchtes Loch! Du wirst noch Rheuma bekommen! Vater wollte, dass ich glücklich werde. Aber Mutter musste mir immer alles madig machen. Die nächsten Tage verbrachte ich hauptsächlich mit Heizen und Schaukeln.
Ja, sagte ich, Max hat vom Voom Voom erzählt.
Ich dachte, er darf nicht.
Er geht heimlich. Er sagt zu Hause, dass er bei einem Freund Mathe lernt und gleich dort übernachtet.
Mich musst du nicht anlügen. Du gehst jetzt ins Voom Voom. Und wehe, du belügst mich!
Max (ein Schulfreund von mir) darf nie in eine Disko gehen, sagte ich, er hat einen Riesenstreit mit seinen Eltern, weil sie ihn nicht weglassen.
Er will wenigstens. Und du darfst! Bis Mitternacht. Dann bist du verlässlich wieder zu Hause.
Sie steckte mir einen Geldschein zu.
Aber, sagte ich, wohin soll ich gehen? Ich kenne doch keine Disco!
Alle jungen Leute rennen jetzt in dieses Voom Voom, sagte sie, nahm ein Telefonbuch, suchte die Adresse heraus, erklärte mir, wie ich hinkomme.
Ich fand mich im Voom Voom nicht zurecht. Eine dunkle, fremde Welt mit Lichtblitzen. Die Zähne der Lachenden schienen blau. Aber die wenigsten lachten. Es herrschte eine Atmosphäre wie in einem Bergwerk. Hier musste eine sehr anstrengende Arbeit geleistet werden. Ich dachte immerzu nur: Was mache ich hier? Dann fiel es mir wieder ein. Das andere Geschlecht.
Und dann passierte es. Ich sollte für die Studentenzeitung eine Reportage über »Die neue Jugendkultur« schreiben. Ich war zu feig, um zu recherchieren. Ich schrieb aus Erinnerung über das Voom Voom. Diese Reportage wurde ein fulminanter Erfolg - bei der Sekretärin meines Professors im Institut für Publizistik. Sie sprach mich darauf an. Der Satz »Nur wenn ich ein Tier wäre, würde ich den Vorwurf meiner Artgenossen, ich sei zu menschlich, verstehen« habe sie tief berührt. Sie erzählte mir, dass sie vor zwei Wochen im Voom Voom gewesen und dort als »Oma« verspottet worden sei.
Wir können gerne zu dir gehen, sagte sie. Mir wurde mulmig. Ich hatte das nicht erwartet und daher die Heizung im Marxer Keller aus Sparsamkeitsgründen nur auf das Minimum eingestellt. Wir mussten sehr lange in voller Bekleidung schmusen, bis es endlich so warm war, dass Helga bereit war, sich auszuziehen.
Einige Tage später Anne. Mensa. Dann Marxer Keller. Wie abgebrüht sie war. Kühl und selbstsicher nahm sie sich, was sie wollte. Sie kannte keine Scheu, kein Tabu. Sie tat nichts nur deswegen, um mir etwas Gutes zu tun - und tat mir dadurch unausgesetzt Gutes.
In Annes Armen aber dachte ich erregt an die scheue Zärtlichkeit Helgas, an Helgas große romantische Augen und die so sinnlich gekreuzten Arme über ihrem Busen. Wenige Tage später zog Helga im Marxer Keller ein.
Annes Vater war Arzt. Spross einer legendären Ärztedynastie. In den Arkaden der Universität befanden sich drei Bronzebüsten von seinen Vorfahren, die auf dem Gebiet der medizinischen Forschung Großes geleistet hatten. Streng blickende Männer mit Backen-, Zwirbel- oder Knebelbart. Annes Vater, er hatte keinen Bart, war nicht nur ein hohes Tier in der Standesvertretung der Ärzte, er war vor allem bekannt als Spezialist für gekrönte Häupter aus aller Welt. Das Fernsehen zeigte, wie sie in Wien ankamen, und übertrug dann die Pressekonferenzen, in denen er über ihren Gesundheitszustand Auskunft gab.
Ich hatte mich gefreut. Ein Genuss. Er war zerstört. Trotzig aß ich meine Kirschen. Ich hätte krachend Diamanten zerbeißen können. Das war kein Genuss mehr. Versöhnung im Bett. Ihre Pobacken waren eiskalt. Keine Kirschen im April. Ende April zog sie aus dem Marxer Keller aus.
Wie mich die Literatur langweilte. Bei jedem Buch, das ich aufschlug, hatte ich schon nach dem ersten Satz genug. Ich schaukelte. Ich lernte alle ersten Sätze der Bücher auswendig, die im Marxer Keller in den Ikea-Regalen standen. Mein Favorit war der Anfang von Robert Walsers Räuberroman: »Edith liebt ihn. Hievon [sic] nachher mehr.«
Wenn ich im Marxer Keller ein Fenster öffnete, um zu lüften - Fenster! Es waren Luken, Oberlichter, durch die ich zum Straßenniveau aufblicken konnte! -, kamen nur der Dreck und die Abgase einer stolzen Stadt herein.
Irgendwann kicherten wir. Irgendwann sank sie an meine Schulter. Irgendwann lag sie in meinem Bett im Marxer Keller. Wir hatten uns nur wenig mehr gesagt als unsere Namen. Sie hieß Martina. Sie blieb nach dieser Nacht noch zwei Tage, ohne den Keller zu verlassen.
Meine Großmutter hatte damals Gebärmutterkrebs diagnostiziert bekommen, sie war seit fünfzehn Jahren Witwe. Es war alles so klar. Und alles rührte mich. Der Lichtkegel meiner Schreibtischlampe. Man musste im Marxer Keller auch tagsüber Licht einschalten. Das hatte mich immer trübsinnig gemacht. Jetzt rührte es mich.
Das alles war kompliziert genug, dramatisch aber wurde es durch den Auftritt von Tante Lia, die es sich nicht nehmen ließ, extra von Tel Aviv anzureisen. Ich war ihr Lieblingsneffe. »Du bist sensibel. Du bist gefährdet. Du bist mein Liebstes!« , sagte sie zu mir. Dann flüsterte sie mir konspirativ zu, wie eine Burgtheaterschauspielerin der alten Schule, also so, dass man es noch im dritten Rang verstehen konnte: »Ich hab überprüft diese Familie: schwer katholisch, schwer meschugge!«
Martina hatte sich die Cinque-Terre als Destination für die Hochzeitsreise gewünscht. Gut, sagte ich, Monterosso. Dort hatte Ferry Radax den Film »Sonne halt!« gedreht, der damals bereits als Klassiker der österreichischen Avantgarde galt. Ich hatte ihn erst wenige Wochen zuvor bei einer Radax-Retrospektive im Filmmuseum gesehen. Retrospektiven für Jung-Filmer - das gab es nur in Österreich.
Dann verfügte Martina ein Rauchverbot im Marxer Keller. Wir hatten ja kein Schlafzimmer. Das Bett stand im Zimmer. Es sei extrem ungesund, in diesem Qualm zu schlafen. Nun hatten wir im Bett gesunden Schlaf.
Martina bemühte sich, eine gute Gattin zu sein. Sie war zärtlich noch in den kleinsten Dingen. Sie besorgte ein Tischtuch, unter dem die Respalplatte verschwand, Stoffservietten. Liebevoll deckte sie den Tisch. Die alte Rheumadecke und die zerschlissene Bettwäsche aus dem Fundus meiner Großmutter ersetzte sie durch Federbetten und neue Überzüge. Tisch und Bett. Sie bemühte sich wirklich. Plötzlich gab es Zimmerpflanzen im Marxer Keller. Sie litten, sie hatten zu wenig Licht. Martina montierte eine Tageslichtlampe über den Pflanzen, eine falsche Sonne.
Eines Tages traf ich zufällig Anne auf der Kärntner Straße. Wie geht es dir, fragte sie. Keine Floskeln! sagte ich.
Na und? Alles, was du erzählst, phantasierst, erfindest, sagt etwas über dich aus. Weil nur du es so erfinden kannst. Das ist das Objektive daran. Ich meine, ich bin keine Therapeutin, aber ich stelle mir vor, dass Therapeuten das so sehen: Du bist, was du erzählst.
Ja und nein. Der Marxer Keller.
Was ist damit?
Den hat es nie gegeben.
Du hattest gar keine Studentenwohnung?
Doch. Aber keine Souterrainwohnung. Glaubst du im Ernst, dass ich einen feuchten Keller miete, um von zu Hause wegzukommen? Ich hatte eine ganz normale kleine Wohnung im zweiten Stock.
In der Marxergasse?
Nein. In der Lassallestraße. Durch die Marxergasse fahre ich immer auf dem Weg zu Hannah.
Und warum hast du -
Das hast du doch gesagt: Ich bin, was ich erzähle! Vielleicht ist der Marxer Keller ein Bild dafür, wie ich mich damals gefühlt habe. Oder dafür, was ich fühle, wenn ich an damals denke. Die Lehrjahre der Lust. Irgendwie unter Tag. Dunkel. Feucht. Und nicht auf Augenhöhe mit dem sozialen Leben der anderen.
Ich hatte einen sehr guten Lehrer. Nicht an der Universität, am Institut für Publizistik. Nein. Damals, als ich bei der Zeitung zu arbeiten begann. Redakteur Paul Prohaska, genannt der Professor. Er bildete die Jungen aus. Er erkannte mein Talent und förderte mich. Das war damals sehr wichtig für mich. Ich hatte es nicht leicht.
Ich lernte Franz und Alice Mitte der siebziger Jahre im Institut für Publizistik kennen, im Seminar »Geistes- und Theoriegeschichte der Wirtschaftswerbung«. Es war eine jener Lehrveranstaltungen, die unmittelbar einsichtig machten, warum Absolventen des Publizistikstudiums einen »Weltfremd«-Stempel auf die Stirn, aber in der Regel keine Anstellungen bei einer Zeitung bekamen.
Danach standen die Studenten auf und gingen, als zöge sich das Gericht zur Beratung zurück. Im Korridor vor dem Seminarraum sprach ich Franz an. Er brauchte jetzt einen Kaffee, sagte er. Wir gingen ins Café Votiv und redeten. Wir redeten lang.
Ja, wir waren dieses Seminar. Franz, Alice und ich gründeten noch am selben Abend die Arbeitsgruppe »AG Publizistik«. Wir gingen ins Gasthaus Hebenstreit, fünf Minuten von der Uni entfernt, redeten bis zur Sperrstunde, machten Pläne, hielten Gericht. Wie bürokratisch wir waren, wir fertigten ein Protokoll an! Andererseits, heute würde man sagen: eine To-do-Liste.
Das Gasthaus Hebenstreit verfügte über ein Extrazimmer, das »für private Veranstaltungen, sprich Hochzeiten und dergleichen«, so die junge Wirtin Frau Uschi, gebucht werden konnte. Ob wir es sehen dürften?
Eine Postkarte, adressiert an Hrn. F. Hebenstreit im gleichnam. Gasthaus in Wien, 8. Bezirk. Das ist ein Stammgast gewesen, noch vom seligen Großvater, sagte Uschi.
Jetzt, wo wir so darüber reden, denke ich: Ich möchte gern ins Hebenstreit gehen, wenn es überhaupt noch existiert, und schauen, wie die Uschi heute aussieht.
Warum, Nathan?
Uschi war sexy. Und ich frage mich heute, warum ich damals nicht darauf reagiert habe, animalisch, zumindest in der Phantasie.
»AG PUBLIZISTIK. Wir trefen uns jeden Dienstag um 19 Uhr im Gasthaus Hebenstreit, Landesgerichtsstraße 8, Bettauerzimmer. BILDUNG STATT SITTLICHKEIT. Seminarkritik. Methodendiskussion. Perspektiven. KOMMT IN MASSEN!«
»Kommt in Massen« fand ich blöd, Franz meinte, das sei ironisch, und Alice sagte, wenn einer kommt, dann ist er eben die Masse. »Bildung statt Sittlichkeit« fand ich witzig, obwohl mir klar war, dass den Witz nur die verstehen würden, die ihr Philosophicum bereits hinter sich gebracht hatten. Und dass Franz »treffen« mit nur einem f geschrieben hatte, fiel mir und Alice leider nicht gleich auf.
Wer weiß, ob dieses Plakat auch nur einen einzigen Studenten ins Bettauerzimmer gelockt hätte. Der Eklat aber, zu dem es kam, als wir das Plakat im Korridor des Instituts aufhängten, machte diesen Aufruf verblüffend wirksam. Es begann mit einem banalen Problem, das dramatische Konsequenzen haben sollte.
Es sei verboten, hier Plakate wild zu affichieren. Nur offizielle Informationen der Universität und des Instituts dürften hier ausgehängt werden, und auch nur auf der dafür vorgesehenen Info-Tafel.
Sie kamen in Massen. Was damals eine Masse war. Vierzehn Studentinnen und Studenten fanden sich am folgenden Dienstag im Bettauerzimmer ein. In der Mehrzahl Frauen. Die lustigen Weiber von Wien.
Der Mann war aufgestanden und hatte sich weit über den Tisch zu mir herübergebeugt. Ich bin kein Publizistikstudent, sagte er und streckte mir die Handflächen entgegen. Ich war mit Lisa - er zeigte auf eine Studentin aus unserem Seminar - verabredet, aber sie wollte hier vorbeischauen. Ich studiere auf der Akademie, Bildhauerei. Verstehst du? Ich haue Steine und nicht Menschen!
Es gab damals in Wien ein Programm-Kino, das STAR-Kino im siebten Bezirk, das regelmäßig »Wochen« machte. Die »Woche des Film Noir«, »Die Woche des Western«, und just, als ich Alice fragte, die »Woche der Liebe«. Eine Woche lang täglich drei Filme, die wichtigen des Genres.
Wenn es gar so toll wäre, da drinnen etwas stecken zu haben, dann wäre ich doch auch jedes Mal erregt, wenn ich ein Tampon verwende, sagte Alice. Ich glaube, dass mich dieses Argument allein deshalb überzeugte, weil es mich verblüffte. Es klang unmittelbar logisch. Und ich hatte das noch nie so gesehen. Wir saßen nackt auf meiner Matratze - ich hatte damals in der Lassallestraße noch immer kein Bett, bloß eine Matratze auf dem Boden.
Die Lassallestraße führt zur Reichsbrücke, der wichtigsten Donaubrücke von Wien. Deshalb ist meine Wohnung sehr billig gewesen, wie jede, die an einer Verkehrsader liegt und von Verkehrslärm und Autoabgasen so beeinträchtigt wird, dass man nie ein Fenster öffnen kann. Plötzlich war die Lassallestraße zur himmlisch ruhigen Sackgasse geworden: Die Reichsbrücke war eingestürzt. Sehr rasch aber wurde die Ruhe von Baulärm abgelöst. Tag und Nacht wurde an der neuen Brücke gearbeitet. Ich schrieb damals eine Glosse für die Studentenzeitung über die Frage, warum die neue Brücke in den österreichischen Medien und in den Stellungnahmen der Stadtpolitiker immer »Reichsersatzbrücke« genannt wurde, und nicht »Ersatzreichsbrücke«, wenn schon nicht »Neue Reichsbrücke«. Jedenfalls dröhnte das Stampfen und Schlagen und Vibrieren von der Reichsersatzbrücke-Baustelle durch die alten schlechten Fenster meiner Wohnung und lieferte den Groove zu unserem Bettgespräch.
Was ich hören will? Janis Joplin und dein Atmen an meinem Ohr! Atmen konnte ich bieten. Janis Joplin nicht. Ich schmiegte mich an sie. Irgendwann begriff sie, dass es in der Lassallestraße einen Rhythmus gab, in dem man sich bewegen konnte, der den Takt des Zuckens und Aneinanderreibens vorgab.
An den Mittwochabenden saßen Franz und ich vorne im Schrankraum des Hebenstreit und warteten, bis die Frauen aus dem Bettauerzimmer herauskamen, aufgekratzt, lustig, stolz, und wieder die Gesellschaft von Männern zuließen.
Ich hätte Verdacht schöpfen müssen, als eines Mittwochabends der Mann mit den Pranken im Hebenstreit auftauchte, der Kunststudent mit den dicken Haaren, die er sich mit gespreizten Fingern ständig aus der Stirn strich. Andererseits: selbst wenn ich Verdacht geschöpft hätte, ich hätte nicht verhindern können, was sich längst hinterrücks angebahnt hatte und in der Folge geschah.
Die österreichische Staatspolizei analysierte das Flugblatt der »Sympathisanten« und vollbrachte die Meisterleistung, herauszufinden, dass die Bettauer sich jeden Dienstag im Bettauerzimmer trafen, so wie es im Flugblatt stand. Eine revolutionäre Zelle in einem konspirativen Extrazimmer. Die Polizei war begierig danach, Erfolge vorweisen zu können. Sie gab einigen ausgesuchten Journalisten Tipps. Diese saßen im Schankraum des Hebenstreit und warteten mit Fotoapparaten auf den Polizeieinsatz. An diesem Abend hätte ich meinen späteren Lehrer Paul Prohaska kennenlernen können. Er saß an der Schank und trank, während der junge Fotoreporter, den er mitgenommen hatte, immer wieder nervös mit dem Belichtungsmesser hantierte. Was hatten sich die Bettauer gedacht, als sie in das Gasthaus Hebenstreit kamen und an einem halben Dutzend Fotografen vorbei ins Hinterzimmer eilten? Nichts. Und dann kam der Polizeieinsatz.
Da war ein öffentliches Telefon. Der Hörer baumelte herunter. Vier Jugendliche standen daneben. Sie hatten eindeutig das »Voom-Voom-Syndrom«, das heißt, sie schauten so überheblich lässig, dass es fraglich war, ob sie überhaupt etwas sahen. Sie sahen nicht einmal den baumelnden Telefonhörer. Trafen keine Anstalten, ihn in die Gabel zurückzuhängen. Und auch sie redeten nicht. Sie schauten.
Ich fuhr nach Marthas Anruf sofort in das Krankenhaus »Zu den barmherzigen Schwestern«, von Vater stets »Die herzigen Schwestern« genannt. Dort hatte er einen Primararzt gekannt, Doktor Hubertus Huber-Canossa, der in der Glanzzeit meines Vaters ein Modearzt war, ein, wie man heute sagen würde: Anti-Aging-Spezialist, für alternde Prominente, der aber nach der Pensionierung meines Vaters aus der Mode gekommen und selbst alt geworden war. Vater hatte ihm vertraut. Jahrelang hatte er sich regelmäßig für einige Tage zu ihm begeben (»Ich leg mich zu den herzigen Schwestern!«), um sich vorsorglich durchchecken zu lassen.
Erst vor einem halben Jahr hatte sich Vater wieder einmal, das letzte Mal, zu den herzigen Schwestern gelegt, um sich vom alten Doktor Huber-Canossa eine Woche lang untersuchen zu lassen. Danach hatte ich ihn im Café Landtmann, neben dem Burgtheater, getroffen, ein Café, in dem viele Prominente verkehren, beliebte Schauspieler, Politiker, berühmte Geschäftsmänner. Hier saß er seine Pension ab, das war seine Welt.
Das Handy. Ich griff in die Tasche und drückte darauf herum, bis es endlich zu läuten aufhörte.
Herzstillstand heißt, das Herz hat aufgehört zu schlagen.
Aber hört das Herz nicht immer auf zu schlagen, wenn der Tod eintritt?
Ja.
Mit anderen Worten, Sie sagen: Der Tod war die Todesursache?
Wieder läutete das Handy.
Ja. Der Tod Ihres Vaters hatte keine andere Ursache. Keine sichtbare andere.
Das Handy.
Wollen Sie eine Obduktion beantragen?
Ich holte das Handy aus der Tasche, sah auf dem Display »Mutter«, drückte auf die Taste »Gespräch annehmen« und sagte zum Doktor: Eine Obduktion?
Obduktion?, hörte ich am Handy die Stimme von Mario, dem Mann meiner Mutter. Du weißt es schon? Von wem? Und warum eine Obduktion?
Zehn Minuten später war ich auf dem Weg ins Böhler-Unfallkrankenhaus.
Sie hat nicht gelitten, sagte ein junger Arzt.
Was heißt, sie hat nicht gelitten?
Es ging zu schnell. Als ihre Mutter vom Pferd abgeworfen wurde, hatte sie gerade noch Zeit, zu begreifen, dass sie abgeworfen wurde. Und schon prallte sie auf, die Halswirbelsäule brach, und sie war tot, schneller als sie knacks sagen können. Wir haben für Ihre Mutter, als sie gebracht wurde, nichts mehr tun können. Es war eindeutig, dass sie auf der Stelle tot gewesen sein musste.
In der Woche, nachdem die Bettauer durch diesen Polizeieinsatz gesprengt, Franz von seinem Vater verhaftet worden war, gingen Franz und ich noch einmal in das Gasthaus Hebenstreit. Wir wollten wissen, ob nach diesem Eklat doch noch Studenten zum Bettauer-Termin kommen. Außer Franz und mir erschien nur einer, ein Einziger. Ich weiß seinen Namen nicht mehr. Wir saßen da zu dritt, schauten uns an, und dann sagte Franz: Ich stelle gemäß der Geschäftsordnung den Antrag auf Selbstauflösung unserer revolutionären Zelle. Der Student, der mit uns dasaß, hob die Hand, sah mich an und sagte: Ich stimme dafür. Ich war sprachlos, und Franz sagte: Antrag mit Zweidrittelmehrheit angenommen!
Als Student sei ich gescheitert, das sei bedauerlich, allerdings noch keine Katastrophe. Er sei ohnehin immer der Meinung gewesen, dass das Studium verlorene Zeit sei, aus dem Fenster geworfenes Geld. Sein Geld. Er habe ja immer gesagt: auf der Universität Publizistik zu studieren, sei ungefähr so sinnvoll, wie in der Sahara einen Schikurs zu machen.
Durch meine Willfährigkeit, alles richtig zu machen, wurden auch die Sonntage zu Arbeitstagen. Weil die Frauen spazieren gehen wollten. In den Park von Schloss Schönbrunn
(Margit Reiter), in den Wienerwald und dann zu einem Heurigen (Steffi Slama) oder gar auf die Rax (Niki Nossek). Auf den Kieswegen des Parks von Laxenburg mit Ruderbootfahrt im
Schlossteich (wie hieß sie?). Wie nahe beieinander das war: Trieb und Biedersinn.
Aufträge. Es geschah selten, dass mir einer sagte, was ich tun sollte. Der am häufigsten ausgesprochene Auftrag war, das Zimmer zu verlassen und nicht zu stören. Das hatten wir allerdings auch auf der Uni gelernt, im Seminar bei Poppe.
In den neunziger Jahren, als ich das Haus hier kaufte, wurde auf dem Gelände der »Knochenfabrik« eine Disco-Halle hingestellt. Ich ging an einem Freitagabend hin. Damals hatte ich noch den Anspruch, die Umgebung meiner Lebensorte zu erforschen. Ich fühlte mich nicht nur nicht zu alt, ich fühlte mich noch nicht alt. Es war langweilig. Im Grunde ewiges Voom Voom. Ich ging an die frische Luft.
Ich rief Christa an. Morgen Mittag? Ausgemacht. Ich rief Hannah an. Die einzige kurzfristige Möglichkeit, sagte sie, sei am nächsten Tag zu Mittag, in ihrer Mittagspause. Abgemacht. Ich rief wieder Christa an. Ob sie auch am Nachmittag könne. Nur um fünf, sagte sie, nur eine Stunde. In der Nähe der Uni. Café Landtmann? Abgemacht.
Pink Floyd in der Stadthalle. Pink Floyd gehörte zweifellos zum Soundtrack meiner Biographie. Aber ich war nie ein kreischender Jugendlicher. Und Feuerzeugschwenken war nicht eines meiner Grundbedürfnisse.
Ein Vortrag? Der Dalai Lama im Palais Eschenbach, auf Einladung der Wirtschaftskammer. Wenn die Frau, die gerade gleichzeitig die Programmzeitung las, zu einem Gott gehen sollte, den die Wirtschaftskammer eingeladen hatte, wären wir geschriedene Leute, noch bevor wir uns kennengelernt hatten.
Konzert? Im Konzerthaus wurde Friedrich Cerha gegeben, »Langegger Nachtmusik III«. Ich liebte Cerha. Meine Frau liebte auch Cerha, davon war ich überzeugt. Aber genauso wie ich, das war klar, hörte sie lieber eine CD zu Hause als in den engen Reihen eines steifen Konzertsaals. Eine Frau, der beim Musikhören Bequemlichkeit egal war, konnte nicht die richtige sein.
Als ich bei der Uni ankam, schaute ich, ob gerade ein zweites Taxi vorfuhr. Die Philosophen-Stiege. Der Festsaal. Es war noch eine halbe Stunde bis zum Beginn des Vortrags. Ich war der Erste. Außer mir war nur die Garderobefrau da. Ich legte den Mantel vor ihr auf den Tisch. Nicht gerade ein Massenansturm, sagte sie. Sie lächelte eigentümlich ironisch, als sie meinen Mantel nahm und aufhängte. Es ist noch früh, sagte ich, und: Wenn nur einer kommt, dann ist er die Masse.
Beate war keine Garderobefrau. Sie war die Erste am Veranstaltungsort gewesen (»Ich wollte mir einen guten Platz sichern!«) und hatte sich zum Warten auf den einzigen Stuhl im Vorraum des Festsaals gesetzt, und das war der Stuhl hinter dem Garderobetisch. Es war nicht Liebe auf den ersten Blick. Na und?
Sie erzählte, dass sie in ihrer Studentenzeit in der Zeitung einen Artikel über eine Diskothek gelesen hatte, über das Voom Voom, und daraufhin einmal hingegangen sei. In mir tobte ein Titanenkampf: Würde es sie beeindrucken oder wäre es unangenehm großspurig, wenn ich mich als Autor dieses Artikels zu erkennen gäbe, oder wäre es vorbildliche Bescheidenheit, die mir später einmal positiv angerechnet würde, wenn ich nur wissend lächelte?
Das Haus in der Lassallestraße, in dem ich noch immer wohnte, wurde damals systematisch zum Abbruchhaus gemacht. Große Konzerne drangen in die Straße ein, zogen Bürotürme hoch und schoben sich immer weiter vor. Ein verkommenes Viertel in Zentrumnähe mit U-Bahn-Anbindung ist für Großinvestoren ein Geschenk, zumal die Stadt diese Entwicklung, die sie für Sanierung hielt, förderte.
Da standen wir nach vier oder fünf Mojitos im Morgengrauen vor dem Haustor in der Lassallestraße. Alles war »schon«: die Vögel schrien schon. Die Baumaschinen stampften schon. Nicht mehr die der Brücke, die Baumaschinen der Hochhäuser. Wir stiegen die Treppe hoch. Es gab kein Ganglicht. Dämmerlicht.
Sich riechen können - was heißt das? Beates Scheide roch nach Mottenkugeln. Dann meine Finger, mein Schwanz. Das Bett. Die Wohnung. Die Lassallestraße. Der Geruch ist unangenehm. Hochkonzentriert geradezu widerlich.
Ich zog zu ihr. Sie hatte eine große Wohnung in der Otto-Bauer-Gasse. Mit Terasse hofseitig. Was mir gefiel, war, dass ihre Wohnung nicht eingerichtet war. In einem Zimmer lag ein Futon auf dem Boden. In einem Zimmer gab es einen Esstisch und Stühle. In einem Zimmer einen Schreibtisch. Nur Küche und Bad waren perfekt, sehr luxuriös. Das war schon, sagte sie. Glühbirnen, die von der Decke hingen. Ich hatte nicht das Gefühl, in das gemachte Nest eines anderen Menschen zu ziehen.
Ich saß im Café Landtmann und wartete auf Christa, als Franz anrief. Er bot mir einen Pauschalistenvertrag an. Er fühle sich verantwortlich für mich, er könne nicht mit ansehen, wie ich »abstinke«, sagte er. Mit der Chefredaktion sei das abgesprochen. Der unerwartete Erfolg der neuen Serie habe dies sehr erleichtert.
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