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Bis zur Neige - Ein Fall für Berlin und Wien - pp 245-247

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Anna war kaum länger als eine halbe Stunde in der Tierklinik gewesen, doch die Welt draußen hatte sich vollkommen verändert. Ein heftiger Sturm zerrte an den hohen Bäumen, und kaum saß Anna im Auto, ging ein heftiger Platzregen nieder. Die engen Straßen waren übersät von herabgefallenen Ästen, sie fuhr im Schritttempo, das Wasser schoss an ihr vorbei, und die Scheibenwischer richteten rein gar nichts mehr aus gegen die Regenmassen, die sich über ihre Windschutzscheibe ergossen. Das Währinger Cottage hatte plötzlich nichts mehr vom lieblichen Vorstadt-Villenviertel, in dem Anna an ihren freien Abenden so gerne spazieren ging und sich in die Leben der einst berühmten Bewohner träumte. Plastiksäcke wirbelten durch die Gegend, eine umgestürzte Mülltonne kullerte am Straßenrand hin und her, vom Haus neben ihr waren bereits einige Dachziegel in den Vorgarten gestürzt. Die Gentzgasse glich einem reißenden Fluss, ein Auto hatte es aus einer Parklücke gespült, es stand quer auf der Fahrbahn. Ein paar Passanten standen fast bis zu den Knien im Wasser, das wie ein brauner Gebirgsbach die leicht abfallende Straße entlangschoss. Anna lenkte ihr Fahrzeug an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Nach etwa zehn Minuten wurde der Regen schwächer, und mehrere Leute kamen aus ihren Häusern, um die überschwemmte Straße zu fotografieren. Anna überlegte, ob sie das Weiterfahren riskieren konnte, als ihr Handy klingelte. Harald. »Hallo. Bist noch im Dienst?« »Nein, eigentlich schon fast zu Hause, aber ich sitz hier im Weltuntergang fest.« »Um Gottes willen, bist du draußen?« »Ja, aber mach dir keine Sorgen. Ich bin im Auto. Es hört eh bald auf.« »Das ist Irrsinn. Klimakatastrophe! Das Eisgeschäft und der Buchladen sind überschwemmt. Die Martinstraße ein brauner Fluss. Wo bist du denn?« »Ecke Cottagegasse Gentzgasse. Hier wird’s schon besser, ich glaub, ich fahr bald weiter.« »Schon was vor heute?« »Nicht direkt. Mal sehen, wie es dem Kind geht, und ein bisschen nachdenken über meinen toten Winzer.« »Das Kind ist groß, und nachdenken kannst auch bei mir. Ich hab zwei wunderbare Schnitzerl vom Mangalicaschwein gekauft. Viel zu schade, die allein zu essen. Einen guten Wein gibt’s auch, zwar keinen Bachmüller, aber auch nicht schlecht.« »Klingt gut. Ich geh mal schnell nach Hause und schau, was Florian vorhat. Und dann schwimm ich rüber. Stunde?« »Wunderbar. Ich deck schon mal den Tisch und dekantiere den Wein.«
»Okay, bis später, du Snob.« Langsam fuhr Anna die Gentzgasse runter, und der Regen hörte so plötzlich auf, wie er angefangen hatte. Als sie in der Nähe der Wohnung einen Parkplatz fand, war der Wasserstand noch immer beträchtlich, das Wasser schoss allerdings nicht mehr in der Geschwindigkeit dahin wie noch vor ein paar Minuten. Anna zog ihre Schuhe aus und krempelte die Hosen hoch. In der Kutschkergasse traf sie auf den verzweifelten Signor Rocco, der versuchte, sein Eisgeschäft trockenzulegen. Auch im Friseurladen daneben war der frischrenovierte Parkettboden von Wasser bedeckt. Anna war heilfroh, dass sich ihre Wohnung im zweiten Stock befand, und als sie den Flur betrat, stellte sie fest, dass das Gewitter keinerlei Abkühlung bewirkt hatte.
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Die Ansprachen dauerten eine kleine Ewigkeit. Die Sonne brannte erbarmungslos auf die Schaulustigen herab. Tausende waren an diesem heißen Julitag gekommen, um beim Eröffnungs-Spektakel dabei zu sein. Die wenigsten von ihnen konnten sich eine Fahrt mit dem Riesenrad leisten. Der Fahrpreis betrug heute am Eröffnungstag sechzehn Kronen, hatte Gustav auf einem Schild vor dem Kassenhäuschen gelesen. Für die meisten Leute war das mehr als ein Wochenlohn. Trotzdem waren die Wiener begeistert von diesem vierhundertdreißig Tonnen schweren Stahlbauwerk, das dreißig rote Kabinen in Bewegung setzen konnte.
Nachdem die Militärkapelle die Kaiserhymne "Gott erhalte, Gott beschütze unseren Kaiser, unser Land!" gespielt hatte, erklang zu Ehren der Ingenieure auch die britische Nationalhymne "God save the Queen". So manch österreichischer Patriot in den hinteren Reihen begann zu meckern. Gustav wusste, dass die Einzelteile in London angefertigt und in Wien an Ort und Stelle zusammengebaut worden waren. Seiner Meinung nach gebührte den Engländern zumindest ein kleines Dankeschön.
Nachdem der Kardinal-Erzbischof das Ungetüm gesegenet hatte, setze es sich langsam und schwerfällig in Bewegung. Unbeschreiblicher Jubel brach aus. Die Leute klatschten wie wild und renkten sich die Hälse aus, um einen Blick auf die ersten mutigen Fahrgäste zu erhaschen. Bei all dem Gedränge fiel es Gustav schwer, seinen guten Platz zu behaupten.
Ein Livrierter mit weißen Handschuhen öffente die Tür der Gondel, die vor den Ehrengästen zum Stillstand gekommen war.
pp 71-72 from Der Tod fährt Riesenrad by Edith Kneifl

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Anna ließ ihren jungen Kollegen bei der U6-Station Spittelau aussteigen, er wohnte irgendwo auf der anderen Seite der Donau, in Transdanubien, wie der Wiener so schön sagt. Diese Stadtteile, Bezirke wie Floridsdorf und Donaustadt, waren für Anna ziemliches Fremdland. Kurz bevor sie in die Währinger Straße stadtauswärts in Richtung ihrer Wohnung bog, entschloss sie sich doch noch, auf einen Abstecher ins Präsidium zu fahren. Florian war ja nicht zu Hause, der Kühlschrank gähnend leer und in ihrem Wohnzimmer hatte es sicher 35 Grad. Da konnte sie genauso gut noch einen kurzen Blick in Bachmüllers Unterlagen werfen. Die Aktenordner standen in einer Reihe nach Jahreszahlen geordnet an der Wand. Einige Dokumente lagen in kleinen Stapeln auf dem Tisch, versehen mit bunten Post-its, auf denen in penibler Schulmädchenschrift diverse Zahlen notiert waren. Gabi Kratochwil war anscheinend ein ordnungsliebender Mensch, die Schrift war definitiv nicht von Robert Kolonja. Ein elegantes kleines Moleskine-Adressbüchlein, eine Brieftasche und ein schwarzer Kalender lagen daneben. Das ist alles, was von einem Leben übrig bleibt, dachte Anna und blätterte im Adressbuch, in denen sich kaum Einträge fanden. Ein paar Nummern in Salchenberg – der Pfarrer Norbert Wieser, das Gemeindeamt, ein paar Nachbarn, das Raiffeisen-Lagerhaus im Nachbarort. Kaum Nummern aus Wien, keine ausländischen Telefonnummern, keine anderen Bachmüllers, keine Frauenvornamen. Der Kalender war ähnlich unergiebig. Anna holte sich ein Glas Wasser und schlug wahllos einen Aktenordner auf. Eingangsrechnungen von Flaschenankäufen, ein paar landwirtschaftliche Geräte, eine Rechnung über mehrere Tonnen Biomist. Plötzlich blieb ihr Blick auf einer Rechnung aus dem Jahr 2008 haften. Ausgestellt vom Biowein Bachmüller an die Weder-Noch-OHG in Berlin. Dass Bachmüller seinen Wein an dieses Lokal verkauft hatte, wusste Anna bereits, doch was sie stutzig machte, war der Betrag, den er dafür in Rechnung stellte. Sage und schreibe eine halbe Million Euro, zahlbar innerhalb von zehn Tagen. Da stimmt doch was nicht, wie viel Wein kann man denn liefern, um 500000 Euro zu kassieren? Auch wenn es teurer Wein war, aber so viel konnte so ein kleiner Winzer doch gar nicht produzieren! Anna nahm sich noch einen weiteren Ordner und nach etwa einer halben Stunde hatte sie noch eine Rechnung ans Weder-Noch, diesmal aus dem Jahre 2007 über 300000 Euro.
pp 147-148 from Bis zur Neige - Ein Fall für Berlin und Wien by Petra Hartlieb, Claus-Ulrich Bielefeld