Die freudlose Gasse
Das Haus Nr. 55 in der Melchiorgasse, die sich im VII. Wiener Bezirk bis zum Gürtel erstreckt, entstammt der Jahrhundertwende. Wurde also zu einer Zeit gebaut, da Hausbesitzer sein einen Lebensberuf bedeutete. Man war Hausherr, wie man Advokat oder Fabrikant war. Die Frau des Hausbesitzers war Hausbesitzergattin, der Sohn ein Hausherrensohn. Unter allen Großstadtdrohnen war der Hausbesitzer die stärkste und brutalste. In anderen Städten war ein Haus sichere Kapitalanlage, in Wien oft ausschließlicher Erwerb. Es galt, aus einem Haus soviel Profit wie möglich herauszuschlagen, also mit schlechtem Material zu bauen, mit jedem Quadratzentimeter Raum zu sparen, Öfen aufzustellen, die nichts kosteten und auch nicht heizten, die Luft und das Licht in Kabinette zu verwandeln, aus einem Loch, das kaum für eine Speisekammer genügen würde, ein Schlafzimmer zu machen. Modernen Wohnluxus, wie ihn andere Städte haben, gab und gibt es in Wien nicht, er beschränkte sich auf einige Dutzend Mietpaläste, die nur für die ganz Reichen in Betracht kamen.
Das Haus Nr. 55 in der Melchiorgasse ist der Typus des neueren Wiener Miethauses mit finsteren Korridoren, stockdunklen Nebenräumen, abgestohlenen Badezimmern, schäbigem Talmiluxus und einer Fassade voll von abscheulichen, angeklecksten Ornamenten aus Kalk und Mörtel.
Bei Generaldirektor Rosenow ist Gesellschaft. Mehr als hundert Gäste sind zum Souper geladen. Die große, schloßähnliche Villa in der Pötzleinsdorfer Allee strahlte im Glanz der elektrischen Kronleuchter, auch die Bogenlampen im Park, der die Villa umgibt, leuchten blau und erhellen auf hundert Meter die ganze Gegend. Ein Auto nach dem anderen fährt vor das Gartenportal, vor dem zwei livrierte Diener die Gäste in Empfang nehmen. Ein dritter Diener geleitet sie die gedeckte Gartentreppe zur Villa hinauf, wo sie von Zofen der Pelze und Mäntel entledigt werden. In der mächtigen Halle begrüßt Generaldirektor Jonas Rosenow zappelnd, aufgeregt, jovial, ehrfurchtsvoll oder schäkernd seine Gäste und führt sie zu einem Tisch, auf dem jeder Herr, jede Dame die Tischkarte findet. Dann betritt man den ersten, in Empire gehaltenen Salon, in dem die Frau Rosenow die Honneurs macht. Der dicken kleinen Dame mit rundem, freundlichen Gesicht fällt das nicht leicht. Von Zeit zu Zeit wirft sie einen flehenden Blick auf die schlanke, hohe, magere Gestalt neben ihr, die ihr dann beispringt. Es ist dies die verwitwete Gräfin Stuppach, jetzt Hausdame bei Rosenows.
Generaldirektor Rosenow hatte noch im Jahre 1918 Rosenstrauch geheißen und eine kleine Wechselstube in der Taborstraße gehabt, in der auch Klassenlose, Theaterkarten und Versatzzettel verkauft wurden. Das kleine Männchen hatte aber Blick für die Möglichkeiten der Zeit, wurde von Tag zu Tag reicher, kaufte und verkaufte mit fabelhafterer Geschicklichkeit Häuser und Güter, übersiedelte bald aus der Pazmanitengasse, in der er seit seinem Zuzug aus Bielitz gewohnt hatte, nach dem Palais in der Pötzleinsdorfer Allee, gründete mit anderen zusammen die Mitteleuropäische Kreditbank, wurde ihr Generaldirektor und gab nun auf Veranlassung seiner Tochter Regina, die eben in kleinen Biedermeiersalon den um sie versammelten Herren den neuesten Schlager von Leopoldi und Wiesenthal, >>ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir<<, vorsang, die erste große Gesellschaft. Geschickt hatte das schlanke pikante Mädchen, das die Eltern an Wuchs, Bildung und Geist hoch überragte, bei der Einladung unter die führenden Bank- und Finanzgrößen ein Dutzend Schriftsteller, Maler, Musiker und sogar einen Journalisten gestreut.
Laut, so daß es auch die abseits Stehenden hören konnten, fuhr er fort:
>>Ein sehr romantischer und interessanter Mord hat sich, wie mir der Nachtredakteur erzählte, ereignet. In der Melchiorgasse 55 wurde kurz nach zehn Uhr in einem Absteigequartier die Leiche einer bildschönen jungen Frau gefunden. Das schwarzseidene goldgestickte Abendkleid und der Chinchillapelz lassen auf beste Gesellschaft schließen. Mehr weiß man noch nicht.<<
Doktor Leid war aufgesprungen, wie im Traum wiederholte er die Worte >>schwarzseidenes goldgesticktes Kleid, Chinchillapelz ---<< Dann schrie er gellend auf:
>>Das ist Lia!<< und stürzte ohnmächtig zusammen.
>>Sie ist es, ich weiß es. Arme Lia, ich war doch wohl zu alt für sie, zu schwer und ernst. Sie hat Feuer und Flamme gebraucht, und ich bin ein ausgebrannter Krater. Lieber Freund, geh in, sie daß ihrer Leiche kein Schmerz zugefügt wird. Ich aber fühle mich wieder ganz wohl und werde dich im Hotel Bristol, wo ich mir ein Zimmer nehmen werde, erwarten. Mein Heim betrete ich nie wieder.<<
In dieser Beziehung repräsentiert die Melchiorgasse die ganze Stadt. In ihr leben Markthelfer und Gemüsehändler, die um zwei Uhr morgens mit ihren Karren alte Häuser, hinter denen endlose Höfe mit Stallungen sich befinden, verlassen, um auf den Markt zu fahren, in ihr rollen fürstliche Automobile vor die hohen geschlossenen Portale feudaler, wenn auch von außen unscheinbarer Paläste, es gibt da Zinshäuser aus der Gründerzeit und moderne Bureaugebäude, die keine Wohnungen enthalten.
Das vierstöckige Haus mit den erbärmlichen Wohnungen trägt die Nummer 54, das kleine mit den vielen Höfen 56, und neben diesem liegt das Haus Nummer 58, das wieder einen anderen Typus repräsentiert. Es stammt aus den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, einer Zeit also, da noch recht solid gebaut wurde, die Zimmer groß, hoch, die Küchen geräumig, die Kachelöfen breit und behaglich waren. So dick und massiv waren damals die Mauern, daß diese Häuser die Entwicklung der Gasbeleuchtung nicht hatten mitmachen können, da es kaum möglich gewesen wäre, die Rohre einzuziehen. Erst kurz vor dem Krieg hatte der Hausherr, der einer alten Wiener Familie angehörte und ein wenig Herz für seine Parteien besaß, elektrisches Licht einführen lassen.
Der Redakteur des >>Wiener Herold<<, Otto Demel, ging in der Kanzlei des Rechtsanwaltes Doktor Heinrich Leid auf und ab, während dieser vor seinem Schreibtisch saß und düster vor sich hin stierte. Die weitläufigen Bureauräume befanden sich in einem Haus an der Ecke der Goldschmiedgasse und des Stephansplatzes, und wenn Demel beim Fenster stehen blieb, sah er den majestätischen Dom vor sich, den Graben mit seinem Menschen- und Wagengewimmel unter sich.
>>Keine großen Neuigkeiten, nur Kombinationen und Möglichkeiten. Zunächst einmal: Die Zimmervermieterin Frau Merkel sowohl wie der Lehrling des Schusters Wisloschill behaupten, daß der Mann mit dem falschen Spitzbart Lackschuhe getragen habe. Frau Merkel spricht von Lackhalbschuhen, der Lehrling, der für solche Dinge geübte Augen hat, von Lackpumps. Also: zweifellos hatte er Frack oder Smoking an. Ferner: Es ist anzunehmen, daß er mit Ihrer Frau Gemahlin gesellschaftlich bekannt war. Er hat sich nach vollbrachter Tat um neun Uhr entfernt. Liegt da die Vermutung nicht nahe, daß auch er bei dem Herrn Generaldirektor Rosenow geladen war und sich direkt von der Melchiorgasse dorthin nach Pötzleinsdorf begeben hat? <<
>>Aber nun, Herr Doktor, muß ich Sie um etwas bitten. Während wir das Absteigequartier der Frau Merkel zehnmal von oben bis unten durchsucht haben, ohne die geringste Spur zu finden, ist es dem Herrn Hofrat Schmitz bisher noch nicht eingefallen, in Ihrer Wohnung, die seit dem Ereignis versperrt ist, Haussuchung vorzunehmen. Ich halte das aber für sehr wichtig. Es ist leicht möglich, daß wir unter den Papieren der Verstorbenen irgendwelche Visitenkarten, Aufzeichnungen, Briefe oder dergleichen finden, aus denen hervorgeht, mit wem die Dame in der letzten Zeit intim verkehrt hat. Dürfte ich also Herrn Doktor bitten, sich vielleicht jetzt gleich mit mir nach dem Arenbergring zu begeben, damit ich mich umschauen kann? <<
Regina Rosenow, das einzige Kind des billionenreichen Generaldirektors der Mitteleuropäischen Kreditbank, hatte ihre Jourgäste um sich versammelt. Nicht etwa in dem elterlichen Palais in der Pötzleinsdorfer Allee, sondern bei Hopfner in der Kärntnerstraße. Dort hatte sie für jeden Mittwoch von fünf Uhr nachmittags an einen kleinen Saal gemietet, der mit den anstoßenden Séparées ihr und ihren Gästen zur Verfügung stand. Nicht alle ihre bekannten Herren hatten Zeit genug, nach der entlegenen Pötzleinsdorfer Allee zu kommen, außerdem fühlte sich die junge Dame hier ungenierter, sie musste nicht die Hausfrau spielen, konnte es den Kellnern überlassen, nach dem Rechten zu sehen, und schließlich durfte man, wenn die Zeit vorgerückt war, sich auch mehr gehen lassen als zu Hause. Und dann die Séparées! Regina hatte volles Verständnis für alle Möglichkeiten, und dieses paarweise Verschwinden in den hübschen kleinen Zimmern, in denen neben dem Sektkübel das Sofa die hervorragendste Rolle spielte, erhöhte die gute Stimmung, verlieh den Jours der Regina Rosenow eine besonders pikante Note.
Dr. Karl Leid war nach dem unerwarteten Ende des Prozesses mit Frau Liane Christens fortgegangen. Schweigend, tief erschüttert, jeder in seine Gedanken versunken, gingen sie in der milden Frühlingsluft die Währingerstraße aufwärts gegen den Türkenschanzpark zu, in dessen Nähe die Villa Christens lag.
Book with similar publication date: Die Stadt ohne Juden by
Nearby fragment: pp 59 from Bilder und Träume aus Wien by