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Jessica, 30 - pp 179-180
(...) warum dieser Flughafen so hässlich sein muss, was das soll, dieser Riss auf der Fassade, dieser blaue Riss, und das hätten sie gern, warum ist da dieser blaue Riss in der Fassade, das ist doch wirklich ein Supermissverständnis von Dekonstruktion, einen Riss auf etwas zeichnen, das hätten sie gerne, dass das reicht, ganz offensichtlich reicht das, im Gegenteil, das ist genau das Richtige, den Zeitgeist außen draufschmieren und drinnen lassen wir alles so, wie es immer war, aber dieser Flughafen, der wächst auch wie ein Schwamm, wie so ein Betonschwamm und wäscht über die Felder drüber, ob man das nicht anders machen kann, konzentrierter, geplanter, ich meine, ich will ja, fliegen, aber muss deshalb gleich die ganze Ebene mit Asphalt überzogen werden und die Betonbaracken bis in die Slowakei reichen, aber diese Unplanung, das ist alles geplant, es soll keinen schönen Ort mehr geben, und wenn das jetzt schief geht, mit diesem Krieg und dem Öl, und wenn keiner mehr fliegen kann, und all diese Gebäude sind jetzt schon hässlich, als Ruine wird das superätzend (...)
Near fragment in time
Diese vielen ekelhaften Menschen, Menschen, nun, diese vielen ekelhaften Erscheinungen im damit vollgestopften Autobus 74 A, die Landstraßer Hauptstraße hinauf oder hinunter, welche Qual, ihnen mehrmals täglich ausgesetzt zu sein, ihnen und ihren mitgeführten, mit sich getragenen Schicksalen, Lebensgestaltungen, Alltagsbewältigungen, Kinderwagen, Krücken; Inländer, Ausländer, Wiener, Asiaten, gleichviel, nein, gleichviel nicht, die Wiener, die 'Hiesigen', sind allemal scheußlicher, Paare vor allem, alte und ältere, verstunkene Wiener Ehepaare, wie sie hereinzittern 'in den Autobus', wie sie hinauszittern 'aus dem Autobus', dem Autobus 74 A, fürsorglich um einander bemüht und eben deshalb einander abrundtief gram, wie ich sie hasse!
pp 51 from Kalte Herberge by
Near fragment in space
Wir trinken hastig, dann besteigen wir den Autobus, der uns zur Stadt bringen soll.
[...]
Auf dieser Ausfallstraße, vorbei am Palais Metternich, werden wir jetzt ins Zentrum gefahren. Das britische Flugfeld bildet eine Enklave in der Sowjetzone von Österreich. An seiner Ausfahrt stehen die ersten russischen Wachen in hohen Schafsfellmützen. Ihre und ihrer Kameraden Anwesenheit in diesem Vorort Schwechat raubt ihm den letzen Rest europäischer Zugehörigkeit.
Ein unebener Fahrweg mit gelber lehmiger Erde, wo die Sonne den Schnee geschmolzen hat, führt an einstöckigen Häusern vorbei, die vom Krieg beschädigt sind oder längst zerfallen. Eine Holzbrücke spannt sich über den Fluss, der hier ein schmales Gerinnsel bildet, darüber rattert ein kleiner Karren mit Sowjetsoldaten, gezogen von zwei struppigen Ponys – eine Art Bauernfuhrwerk das in den nördlichen und östlichen Provinzen der Monarchie „Panjewagerl“, hieß, der Wagen des Panje oder Herrn. Unter diesem Namen, der mir plötzlich aus vielen Schichten des Vergessens ins Bewußtsein kommt, wird man es wohl in Wien noch kennen.
Vor dem Weichbild der Stadt und nach der alten Brauerei, die seit mehr als einem Jahrhundert das berühmte Schwechater Bier erzeugt, steht eine hözerne Triumphpforte. Sie ist grell bunt behangen mit Drucken von Lenin und Stalin; in ihrer billigen Einfalt erinnern sie an jene Heiligenbildchen, mit denen uns unsere Katecheten, zumeist jüngere Bauernsöhne, in der Volksschule für ein brav aufgesagtes Gebet belohnten.
Vorbei an den ersten der vier Friedhöfe, auf denen wien zu Allerseelen seine makabren Feste feiert. Hier liegen die Eltern meines Vaters. Ich aber denke an den siebzehnjährigen Knaben, den wir 1930 begruben, als er sich in einer jener unerklärlichen Launen junger Mitteleuropäer erschoß. Ich sehe seine Beerdigung: die Eltern zernichtet vor Schmerz, seine Schwester, ein wunderschönes Mädchen, das ihm, wie Laertes der Ophelia, ins Grab nachstürzen will, und rundum ein Kreis frühreifer und verwirrter Freunde, aschgrau vor Entsetzen über ihren eigenen Seelenzustand, der hier zum Äußersten getrieben war. Aus einem Land kommend, wo Cricket den Cafard besiegt, schaudere ich bei dem Gedanken an das überhitzte, hysterische Klima, in dem wir großgeworden sind. Selbst um den Preis jener Empfindungskraft, die uns damals erfüllte, erhoffe ich mir für meine Kinder ein ruhigeres Erwachsenwerden in Englands reinerer Luft.
Die verblichene rote „Elektrische“, die wir überholen, trägt die Nummer 71. Sie führt an der Kirche zu Mariae Geburt vorbei, in der ich in der Jugend – zum letzen Mal vor der Reifeprüfung – mit schwindender Überzeugung beichtete und kommunizierte. Sie hat mich jahrelang zur Schule gebracht, später auf die Universität und in die literarischen Cafés. Das „Fasanenviertel“ in dessen Nähe ich damals wohnte, scheint fast völlig zerstört, freilich weniger durch Bomben, wie mir erklärt wird, als durch Artilleriebeschuß.
Die große Kaserne aus der Kaiserzeit, in der einst die Feldhaubitzenbatterie meines Vaters lag, dann die Wehrmacht hauste und jene schweren Angriffe auf sich zog, beherbergt jetzt die 14. Coy. RASC der Briten – wir sind, ohne es zu bemerken, in ihre Zone gelangt. Die fensterlosen Wohnhäuser der Gegend, die Läden, das kleine Hotel Nagler von üblem Ruf und die elektrische Uhr an der Kreuzung sind nur noch ausgeblasene Hüllen. Ein Blick in die Seitengasse, in der ich fünfzehn Jahre lang zu Hause war, erweckt in mir kein Heimatgefühl.
[…]
Aber der Autobus reißt uns weiter, vorbei an einem Anblick, der mir lange lieb gewesen war. Die Salesianerkirche, in den Himmel gezeichnet mit der vollkommensten Barockkontur, hat das Verhängnis ohne Schaden überstanden. Ihre unendliche Anmut greift mir ans herz. Umhergeschüttelt wie auf einem stürmischen Meer, abwechselnd abgestoßen und angezogen, verbringe ich den Rest der Fahrt. Wir erreichen das Hotel Astoria im Stadtzentrum durch Straßen voller Schutt.
pp 22-25 from Rückkehr nach Wien by
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Auf dieser Ausfallstraße, vorbei am Palais Metternich, werden wir jetzt ins Zentrum gefahren. Das britische Flugfeld bildet eine Enklave in der Sowjetzone von Österreich. An seiner Ausfahrt stehen die ersten russischen Wachen in hohen Schafsfellmützen. Ihre und ihrer Kameraden Anwesenheit in diesem Vorort Schwechat raubt ihm den letzen Rest europäischer Zugehörigkeit.
Ein unebener Fahrweg mit gelber lehmiger Erde, wo die Sonne den Schnee geschmolzen hat, führt an einstöckigen Häusern vorbei, die vom Krieg beschädigt sind oder längst zerfallen. Eine Holzbrücke spannt sich über den Fluss, der hier ein schmales Gerinnsel bildet, darüber rattert ein kleiner Karren mit Sowjetsoldaten, gezogen von zwei struppigen Ponys – eine Art Bauernfuhrwerk das in den nördlichen und östlichen Provinzen der Monarchie „Panjewagerl“, hieß, der Wagen des Panje oder Herrn. Unter diesem Namen, der mir plötzlich aus vielen Schichten des Vergessens ins Bewußtsein kommt, wird man es wohl in Wien noch kennen.
Vor dem Weichbild der Stadt und nach der alten Brauerei, die seit mehr als einem Jahrhundert das berühmte Schwechater Bier erzeugt, steht eine hözerne Triumphpforte. Sie ist grell bunt behangen mit Drucken von Lenin und Stalin; in ihrer billigen Einfalt erinnern sie an jene Heiligenbildchen, mit denen uns unsere Katecheten, zumeist jüngere Bauernsöhne, in der Volksschule für ein brav aufgesagtes Gebet belohnten.
Vorbei an den ersten der vier Friedhöfe, auf denen wien zu Allerseelen seine makabren Feste feiert. Hier liegen die Eltern meines Vaters. Ich aber denke an den siebzehnjährigen Knaben, den wir 1930 begruben, als er sich in einer jener unerklärlichen Launen junger Mitteleuropäer erschoß. Ich sehe seine Beerdigung: die Eltern zernichtet vor Schmerz, seine Schwester, ein wunderschönes Mädchen, das ihm, wie Laertes der Ophelia, ins Grab nachstürzen will, und rundum ein Kreis frühreifer und verwirrter Freunde, aschgrau vor Entsetzen über ihren eigenen Seelenzustand, der hier zum Äußersten getrieben war. Aus einem Land kommend, wo Cricket den Cafard besiegt, schaudere ich bei dem Gedanken an das überhitzte, hysterische Klima, in dem wir großgeworden sind. Selbst um den Preis jener Empfindungskraft, die uns damals erfüllte, erhoffe ich mir für meine Kinder ein ruhigeres Erwachsenwerden in Englands reinerer Luft.
Die verblichene rote „Elektrische“, die wir überholen, trägt die Nummer 71. Sie führt an der Kirche zu Mariae Geburt vorbei, in der ich in der Jugend – zum letzen Mal vor der Reifeprüfung – mit schwindender Überzeugung beichtete und kommunizierte. Sie hat mich jahrelang zur Schule gebracht, später auf die Universität und in die literarischen Cafés. Das „Fasanenviertel“ in dessen Nähe ich damals wohnte, scheint fast völlig zerstört, freilich weniger durch Bomben, wie mir erklärt wird, als durch Artilleriebeschuß.
Die große Kaserne aus der Kaiserzeit, in der einst die Feldhaubitzenbatterie meines Vaters lag, dann die Wehrmacht hauste und jene schweren Angriffe auf sich zog, beherbergt jetzt die 14. Coy. RASC der Briten – wir sind, ohne es zu bemerken, in ihre Zone gelangt. Die fensterlosen Wohnhäuser der Gegend, die Läden, das kleine Hotel Nagler von üblem Ruf und die elektrische Uhr an der Kreuzung sind nur noch ausgeblasene Hüllen. Ein Blick in die Seitengasse, in der ich fünfzehn Jahre lang zu Hause war, erweckt in mir kein Heimatgefühl.
[…]
Aber der Autobus reißt uns weiter, vorbei an einem Anblick, der mir lange lieb gewesen war. Die Salesianerkirche, in den Himmel gezeichnet mit der vollkommensten Barockkontur, hat das Verhängnis ohne Schaden überstanden. Ihre unendliche Anmut greift mir ans herz. Umhergeschüttelt wie auf einem stürmischen Meer, abwechselnd abgestoßen und angezogen, verbringe ich den Rest der Fahrt. Wir erreichen das Hotel Astoria im Stadtzentrum durch Straßen voller Schutt.