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Das Vaterspiel - pp 220-224
Nach dem Frühstück fuhren Klara und ich gemeinsam mit dem Bus zum Hauptgebäude der Universität an der Ringstraße.
Jetzt einmal ernsthaft, sagte ich. Was willst du nun eigentlich studieren?
Klara hob die Schultern. Keine Ahnung, ich schau mich einmal um, was es gibt.
Vor der Uni war eine Lautsprecheranlage aufgebaut. Auch hier wurde gerade Amadeus von Falco gespielt. Da-nach ergriff ein junger Mann im Pullover das Mikrofon und wetterte gegen den Plan der Regierung, im Ennstal eine Schnellstraße zu bauen. Er hatte Mühe, ganze Sätze zu for-men. Er fing irgendwo an und brach, da er kein Ende fand, den Satz ab, um einen neuen zu beginnen, mit dem es ihm nicht besser ging. Aber das schien ihn keineswegs zu stören. Die Vollständigkeit der Sätze war ihm nicht wich-tig. Er wollte bestimmte Signalwörter verbreiten, und die brachte er immer unter. Sein Lieblingswort, das er in jedem Halbsatz benutzte, war Wahnsinn. Ein Wahnsinnsprojekt, ein Wahnsinnsgeld, ein Wahnsinnslärm.
Wenn unser Alter noch Student wäre, sagte ich zu Kla-ra, meinst du, er würde hier stehen und gegen den Ver-kehrsminister protestieren?
Meine Schwester verzog den Mund. Was wenn, sagte sie. Das Problem ist ja gerade, dass er nicht mehr studiert, sondern die Landschaft zubetoniert.
Die Musik wurde wieder eingeschaltet. Aus dem Laut-sprecher dröhnte nun Life is Life von Opus. Klara nahm dem Mann im Pullover ein Flugblatt ab. Plötzlich stutzte sie. Oh, oh. Haben wir dieses Bild nicht schon irgendwo ge-sehen?
Sie hielt mir die Karikatur vors Gesicht. Komm, sagte ich und zog sie weiter. Sie warf das Flugblatt im Vorbei-gehen in eine Mülltonne.
Ich zeigte ihr, wie man bei der Universität das Haupt-portal mit den vorgelagerten Stufen vermeiden und statt-dessen durch den Hof zur Inskriptionsstelle gelangen kann. Dort hatten sich lange Schlangen von Studenten gebildet. Meine Schwester musste sich bei der längsten anstellen, bei der für die Immatrikulation. Wir verabredeten uns für später. Während sie auf ihre Formulare, Broschüren und Zahl-scheine wartete, ging ich in die Buchhandlung von Heinz Kolisch. Auf einem Büchertisch gegenüber vom Eingang la-gen stapelweise die Neuerscheinungen. Ich nahm ein Buch nach dem anderen zur Hand und las die Umschläge. Der bärtige Buchhändler blieb kurz bei mir stehen, nahm von einem Stapel ein Buch und hielt es mir vors Gesicht. Wenn Sie sich für österreichische Literatur interessieren, sagte er, wäre das vielleicht etwas.
Ich nahm das Buch zur Hand. Es war dünn, was gut war, weil ich bei dicken Büchern bislang selten ans Ende ge-kommen war. Doch dann las ich, das Buch handle vom Leben und Sterben auf dem Land, und so legte ich es wieder zurück. Mich interessierte weder das Leben noch das Ster-ben auf dem Land. Ich kaufte mir ein Vorlesungsverzeich-nis und verließ die Buchhandlung.
Mit der Rolltreppe fuhr ich in die Schottenpassage hinab, zu jenem Café, in dem ich mich mit Klara verabredet hatte. Die Tische waren hinter hohen Glaswänden. Man konnte von jedem, der vorbeiging, sofort gesehen werden. Außerdem hielt direkt davor eine vielbefahrene Straßen-bahnlinie. Ich dachte mir, vielleicht treffe ich Bekannte, die mir den Semesteranfang erleichtern.
Mimi und Brigitte hatten zu studieren auggehört. Beide hatten als Volontäre gearbeitet und danach eine Stelle bekommen, Mimi beim ORF, Brigitte bei der Tageszeitung Kurier. Die Wohngemeinschaft in der Mondscheingasse gab es nicht mehr. Mimi war ausgezogen. Ich hatte den Kontakt zu ihr verloren.
Ich trank ein Bier und suchte mir aus dem Vorlesungs-verzeichnis Veranstaltungen für das Fach Publizistik he-raus. Im Wesentlichen waren es dieselben Veranstaltungen, für die ich mich schon im vorigen Semester inskribiert hat-te. Eigentlich studierte ich nur noch, weil es mir eine gewisse Unabhängigkeit garantierte. Ich bekam da und dort Ermäßigungen, bei der Bahn, bei den Wiener Verkehrsbetrieben, im Theater, ich konnte meinen Zivildienst auf-schieben, und ich konnte einen Beruf angeben. Man wird ständig gefragt, was man macht. Und da war es gut, eine Antwort zu haben.
Ich beobachtete die Leute, die in der Passage vorbeigin-gen. Mein Bier ging zu Ende, und so bestellte ich ein zwei-tes Glas. Diese Menschen da draußen schienen alle zu wis-sen, was sie wollten. Sie liefen zielstrebig ihren Plänen nach. Sie hatten Vorstellungen, was sie als Nächstes ma-chen, und was danach, und wie es überhaupt mit ihnen weitergehen soll. Die dort mit dem Haarreifen, Lehrerin vielleicht oder Geigenspielerin, die mit der großen Brille war wohl Ärztin, und der mit der Aktentasche und dem komischen Gang ein klarer Fall von Jurist. Da ist ein Arbeiter, dort ein Bankangestellter, du die Fette, die so griesgrämig dreinschaut, verkauft entweder irgendetwas oder begnügt sich damit, andere zurechtzuweisen und ihrem Mann das Leben schwer zu machen.
Unter einer Wand von Videoschirmen lag auf einem braunen Karton ein Obdachloser. Er schlief und ließ sich weder durch die direkt über ihm laufende Videoreklame der neuesten Kinohits noch durch das Quietschen der einfahrenden Straßenbahn wecken. Mir geht es eigentlich nicht anders, dachte ich und trank einen Schluck Bier. Auf einem günstigeren Niveau, das schon, aber im Prinzip dasselbe. Ich starrte auf den Sandler und wartete da-rauf, dass er sich bewegte. Die Leute, die sich die Video-reklame anschauten, hielten Abstand zu ihm. Vielleicht stank er.
Dann, nach ein paar weiteren Schlucken Bier, erschien mir alles in günstigerem Licht. Was beklage ich mich. Wie viele träumen davon, nicht arbeiten zu müssen und trotz-dem so gut leben zu können wie ich. Ich bekam im Monat von meinen Eltern fünftausend Schilling. Das ließ sich ver-mutlich noch einige Jahre aufrechterhalten. Ich konnte gra-tis wohnen, zahlte nichts für Strom, Telefon oder Heizung. Was wollte ich mehr. Ich hatte genug Geld, um jederzeit, wenn mir danach war, ausgehen zu können. Ich konnte, wenn eines unserer beiden Autos frei war, und eines war meistens frei, nach Lust und Laune damit herumfahren. Wenn es ein Problem gibt, dann ist es mein Ratzenschädel, nicht die Lebenssituation. Die sollte ich besser genießen, anstatt sie mit der von Sandlern zu vergleichen.
Von weitem sah ich Klara kommen. Sie trug eine Map-pe im Arm. Ihr Unterkörper wiegte beim Gehen hin und her. Die Beine steckten in schwarzen Jeans. Die halblangen, rötlichen Haare flogen ihr über die Schulter. Sie winkte, aber sie schaute dabei nicht zu mir. Eine Person, die gera-de aus der Straßenbahn ausgestiegen war, kam auf sie zu. Ich konnte nicht sagen, ob es ein Frau oder ein Mann war. Sie unterhielten sich, dann schauten sie in meine Richtung. Ich hob die Hand. Klara und der oder die Bekannte kamen ins Café. Es irritierte mich, dass ich das Geschlecht noch immer nicht erkennen konnte. Die Person war ein bekleidetes Knochengerüst. Kurz geschorene Haare, das Gesicht bartlos, aber so kantig, dass ich eher einen Mann als eine Frau zu erkennen meinte. Am bis zum Hals zuge-knöpften Hemd oder an der Bluse drückte sich nicht der geringste Ansatz einer Brust ab. Also doch ein Mann, dachte ich.
Das ist Bibi, sagte Klara.
Jetzt einmal ernsthaft, sagte ich. Was willst du nun eigentlich studieren?
Klara hob die Schultern. Keine Ahnung, ich schau mich einmal um, was es gibt.
Vor der Uni war eine Lautsprecheranlage aufgebaut. Auch hier wurde gerade Amadeus von Falco gespielt. Da-nach ergriff ein junger Mann im Pullover das Mikrofon und wetterte gegen den Plan der Regierung, im Ennstal eine Schnellstraße zu bauen. Er hatte Mühe, ganze Sätze zu for-men. Er fing irgendwo an und brach, da er kein Ende fand, den Satz ab, um einen neuen zu beginnen, mit dem es ihm nicht besser ging. Aber das schien ihn keineswegs zu stören. Die Vollständigkeit der Sätze war ihm nicht wich-tig. Er wollte bestimmte Signalwörter verbreiten, und die brachte er immer unter. Sein Lieblingswort, das er in jedem Halbsatz benutzte, war Wahnsinn. Ein Wahnsinnsprojekt, ein Wahnsinnsgeld, ein Wahnsinnslärm.
Wenn unser Alter noch Student wäre, sagte ich zu Kla-ra, meinst du, er würde hier stehen und gegen den Ver-kehrsminister protestieren?
Meine Schwester verzog den Mund. Was wenn, sagte sie. Das Problem ist ja gerade, dass er nicht mehr studiert, sondern die Landschaft zubetoniert.
Die Musik wurde wieder eingeschaltet. Aus dem Laut-sprecher dröhnte nun Life is Life von Opus. Klara nahm dem Mann im Pullover ein Flugblatt ab. Plötzlich stutzte sie. Oh, oh. Haben wir dieses Bild nicht schon irgendwo ge-sehen?
Sie hielt mir die Karikatur vors Gesicht. Komm, sagte ich und zog sie weiter. Sie warf das Flugblatt im Vorbei-gehen in eine Mülltonne.
Ich zeigte ihr, wie man bei der Universität das Haupt-portal mit den vorgelagerten Stufen vermeiden und statt-dessen durch den Hof zur Inskriptionsstelle gelangen kann. Dort hatten sich lange Schlangen von Studenten gebildet. Meine Schwester musste sich bei der längsten anstellen, bei der für die Immatrikulation. Wir verabredeten uns für später. Während sie auf ihre Formulare, Broschüren und Zahl-scheine wartete, ging ich in die Buchhandlung von Heinz Kolisch. Auf einem Büchertisch gegenüber vom Eingang la-gen stapelweise die Neuerscheinungen. Ich nahm ein Buch nach dem anderen zur Hand und las die Umschläge. Der bärtige Buchhändler blieb kurz bei mir stehen, nahm von einem Stapel ein Buch und hielt es mir vors Gesicht. Wenn Sie sich für österreichische Literatur interessieren, sagte er, wäre das vielleicht etwas.
Ich nahm das Buch zur Hand. Es war dünn, was gut war, weil ich bei dicken Büchern bislang selten ans Ende ge-kommen war. Doch dann las ich, das Buch handle vom Leben und Sterben auf dem Land, und so legte ich es wieder zurück. Mich interessierte weder das Leben noch das Ster-ben auf dem Land. Ich kaufte mir ein Vorlesungsverzeich-nis und verließ die Buchhandlung.
Mit der Rolltreppe fuhr ich in die Schottenpassage hinab, zu jenem Café, in dem ich mich mit Klara verabredet hatte. Die Tische waren hinter hohen Glaswänden. Man konnte von jedem, der vorbeiging, sofort gesehen werden. Außerdem hielt direkt davor eine vielbefahrene Straßen-bahnlinie. Ich dachte mir, vielleicht treffe ich Bekannte, die mir den Semesteranfang erleichtern.
Mimi und Brigitte hatten zu studieren auggehört. Beide hatten als Volontäre gearbeitet und danach eine Stelle bekommen, Mimi beim ORF, Brigitte bei der Tageszeitung Kurier. Die Wohngemeinschaft in der Mondscheingasse gab es nicht mehr. Mimi war ausgezogen. Ich hatte den Kontakt zu ihr verloren.
Ich trank ein Bier und suchte mir aus dem Vorlesungs-verzeichnis Veranstaltungen für das Fach Publizistik he-raus. Im Wesentlichen waren es dieselben Veranstaltungen, für die ich mich schon im vorigen Semester inskribiert hat-te. Eigentlich studierte ich nur noch, weil es mir eine gewisse Unabhängigkeit garantierte. Ich bekam da und dort Ermäßigungen, bei der Bahn, bei den Wiener Verkehrsbetrieben, im Theater, ich konnte meinen Zivildienst auf-schieben, und ich konnte einen Beruf angeben. Man wird ständig gefragt, was man macht. Und da war es gut, eine Antwort zu haben.
Ich beobachtete die Leute, die in der Passage vorbeigin-gen. Mein Bier ging zu Ende, und so bestellte ich ein zwei-tes Glas. Diese Menschen da draußen schienen alle zu wis-sen, was sie wollten. Sie liefen zielstrebig ihren Plänen nach. Sie hatten Vorstellungen, was sie als Nächstes ma-chen, und was danach, und wie es überhaupt mit ihnen weitergehen soll. Die dort mit dem Haarreifen, Lehrerin vielleicht oder Geigenspielerin, die mit der großen Brille war wohl Ärztin, und der mit der Aktentasche und dem komischen Gang ein klarer Fall von Jurist. Da ist ein Arbeiter, dort ein Bankangestellter, du die Fette, die so griesgrämig dreinschaut, verkauft entweder irgendetwas oder begnügt sich damit, andere zurechtzuweisen und ihrem Mann das Leben schwer zu machen.
Unter einer Wand von Videoschirmen lag auf einem braunen Karton ein Obdachloser. Er schlief und ließ sich weder durch die direkt über ihm laufende Videoreklame der neuesten Kinohits noch durch das Quietschen der einfahrenden Straßenbahn wecken. Mir geht es eigentlich nicht anders, dachte ich und trank einen Schluck Bier. Auf einem günstigeren Niveau, das schon, aber im Prinzip dasselbe. Ich starrte auf den Sandler und wartete da-rauf, dass er sich bewegte. Die Leute, die sich die Video-reklame anschauten, hielten Abstand zu ihm. Vielleicht stank er.
Dann, nach ein paar weiteren Schlucken Bier, erschien mir alles in günstigerem Licht. Was beklage ich mich. Wie viele träumen davon, nicht arbeiten zu müssen und trotz-dem so gut leben zu können wie ich. Ich bekam im Monat von meinen Eltern fünftausend Schilling. Das ließ sich ver-mutlich noch einige Jahre aufrechterhalten. Ich konnte gra-tis wohnen, zahlte nichts für Strom, Telefon oder Heizung. Was wollte ich mehr. Ich hatte genug Geld, um jederzeit, wenn mir danach war, ausgehen zu können. Ich konnte, wenn eines unserer beiden Autos frei war, und eines war meistens frei, nach Lust und Laune damit herumfahren. Wenn es ein Problem gibt, dann ist es mein Ratzenschädel, nicht die Lebenssituation. Die sollte ich besser genießen, anstatt sie mit der von Sandlern zu vergleichen.
Von weitem sah ich Klara kommen. Sie trug eine Map-pe im Arm. Ihr Unterkörper wiegte beim Gehen hin und her. Die Beine steckten in schwarzen Jeans. Die halblangen, rötlichen Haare flogen ihr über die Schulter. Sie winkte, aber sie schaute dabei nicht zu mir. Eine Person, die gera-de aus der Straßenbahn ausgestiegen war, kam auf sie zu. Ich konnte nicht sagen, ob es ein Frau oder ein Mann war. Sie unterhielten sich, dann schauten sie in meine Richtung. Ich hob die Hand. Klara und der oder die Bekannte kamen ins Café. Es irritierte mich, dass ich das Geschlecht noch immer nicht erkennen konnte. Die Person war ein bekleidetes Knochengerüst. Kurz geschorene Haare, das Gesicht bartlos, aber so kantig, dass ich eher einen Mann als eine Frau zu erkennen meinte. Am bis zum Hals zuge-knöpften Hemd oder an der Bluse drückte sich nicht der geringste Ansatz einer Brust ab. Also doch ein Mann, dachte ich.
Das ist Bibi, sagte Klara.
Near fragment in time
Szene 4. Sonntagmittag.
Ich gehe durch den Türkenschanzpark. Es ist klar. Aber Frühling. Büsche und Bäume in Blüte. Tulpen und Narzissen. Das Gras wieder grün. Die Anruferin von Freitag war Politikersgattin in der Nachkriegszeit.
pp 45 from Tagebuch der Gegenwart by
Ich gehe durch den Türkenschanzpark. Es ist klar. Aber Frühling. Büsche und Bäume in Blüte. Tulpen und Narzissen. Das Gras wieder grün. Die Anruferin von Freitag war Politikersgattin in der Nachkriegszeit.
Near fragment in space
Eine Strategie! Ja, dachte Breuer auf dem Heimweg im Fiaker, es wurde höchste Zeit, dass auch er sich eine Strategie überlegte. So sehr war er damit beschäftigt gewesen, Nietzsche in die Falle zu locken, dass er bislang keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie er den Fang zähmen sollte, der nun auf Zimmer 13 der Lauzon-Klinik festsaß. Während der Fiaker schwankte und holperte, wandte sich Breuer also strategischen Überlegungen zu. Ein schöner Schlamassel; Anhaltspunkte gab es keine, geschweige denn Schulfälle. Er müsste eine vollkommen neue Behandlungsmethode erfinden. Am besten, er besprach die ganze Sache mit Freud; der begrüßte jede solche Herausforderung. Breuer bat Fischmann, am Spital anzuhalten und Doktor Freud ausfindig zu machen.
Das Wiener Allgemeine Krankenhaus, in dem Freud als Aspirant klinische Erfahrung für die spätere eigene Praxis sammelte, glich einer Stadt in der Stadt: In einem Dutzend Gebäudekarrees mit jeweils geschlossenem Hof, von welchen jedes eine eigene Abteilung beherbergte und welche alle durch ein Labyrinth unterirdischer Gänge miteinander in Verbindung standen, waren zweitausend Patienten untergebracht. Eine vier Meter hohe Mauer riegelte die Außenwelt ab.
Fischmann, mit den verschlungenen Wegen bestens vertraut, eilte von dannen, um Freud von seiner Abteilung zu holen. Minuten später schon kehrte er allein zurück. »Doktor Freud ist nicht im Hause. Doktor Hauser sagte mir, er wäre vor einer Stunde in sein Stammlokal gegangen.«
Das von Freud frequentierte Kaffeehaus, das Café Landtmann am Franzensring, lag nur wenige Straßenzüge entfernt, und dort traf Breuer seinen Freund auch an. Er saß allein vor einem Braunen und studierte ein französisches Literaturjournal. Im Café Landtmann verkehrten vorwiegend Ärzte, klinische Aspiranten und Medizinstudenten. Obschon weniger exklusiv als Breuers Stammcafé Griensteidl, abonnierte das Landtmann über achtzig Zeitungen und Zeitschriften, mehr vielleicht als jedes andere Wiener Kaffeehaus.
»Sigmund, lassen Sie uns auf eine Leckerei zu Demel gehen. Ich habe Neuigkeiten über den Migräne-Professor.«
Im Nu war Freud aufbruchsbereit. Er schwärmte leidenschaftlich für die illustre Wiener Hofzuckerbäckerei, konnte sich einen Besuch jedoch nur dann leisten, wenn er eingeladen wurde. Zehn Minuten darauf saßen sie an einem ruhigen Ecktisch. Breuer bestellte zwei Braune, ein Stück Schokoladenkuchen für sich selbst und für Freud Zitronencremetorte mit Schlag, welche dieser so gierig verschlang, dass Breuer seinen jungen Freund drängte, sich vom silbernen Kuchenwagen ein zweites Stück auszuwählen. [...] »Aber ja!« Breuer war begeistert. »Eine bedeutsame Einsicht!« Er ließ ein paar Kupferkreuzer auf dem Tisch liegen, und dann schlenderten er und Freud hinaus auf den Michaelerplatz. »Wenn mein Patient diesen anderen Teil in sein Ich aufnehmen könnte, wäre viel gewonnen. Wenn er einzusehen vermöchte, wie natürlich es ist, Trost von seinen Mitmenschen zu erhoffen, das genügte schon!«
Sie gingen den Kohlmarkt hinab und trennten sich dann im Gedränge am Graben. Freud schlug den Weg durch die Naglergasse zum Krankenhaus ein, Breuer schlenderte über den Stephansplatz Richtung Bäckerstraße. Die Nummer 7 lag schräg hinter den hochaufragenden romanischen Türmen des Westwerkes des Stephansdoms.
pp 217-226 from Und Nietzsche weinte by
Das Wiener Allgemeine Krankenhaus, in dem Freud als Aspirant klinische Erfahrung für die spätere eigene Praxis sammelte, glich einer Stadt in der Stadt: In einem Dutzend Gebäudekarrees mit jeweils geschlossenem Hof, von welchen jedes eine eigene Abteilung beherbergte und welche alle durch ein Labyrinth unterirdischer Gänge miteinander in Verbindung standen, waren zweitausend Patienten untergebracht. Eine vier Meter hohe Mauer riegelte die Außenwelt ab.
Fischmann, mit den verschlungenen Wegen bestens vertraut, eilte von dannen, um Freud von seiner Abteilung zu holen. Minuten später schon kehrte er allein zurück. »Doktor Freud ist nicht im Hause. Doktor Hauser sagte mir, er wäre vor einer Stunde in sein Stammlokal gegangen.«
Das von Freud frequentierte Kaffeehaus, das Café Landtmann am Franzensring, lag nur wenige Straßenzüge entfernt, und dort traf Breuer seinen Freund auch an. Er saß allein vor einem Braunen und studierte ein französisches Literaturjournal. Im Café Landtmann verkehrten vorwiegend Ärzte, klinische Aspiranten und Medizinstudenten. Obschon weniger exklusiv als Breuers Stammcafé Griensteidl, abonnierte das Landtmann über achtzig Zeitungen und Zeitschriften, mehr vielleicht als jedes andere Wiener Kaffeehaus.
»Sigmund, lassen Sie uns auf eine Leckerei zu Demel gehen. Ich habe Neuigkeiten über den Migräne-Professor.«
Im Nu war Freud aufbruchsbereit. Er schwärmte leidenschaftlich für die illustre Wiener Hofzuckerbäckerei, konnte sich einen Besuch jedoch nur dann leisten, wenn er eingeladen wurde. Zehn Minuten darauf saßen sie an einem ruhigen Ecktisch. Breuer bestellte zwei Braune, ein Stück Schokoladenkuchen für sich selbst und für Freud Zitronencremetorte mit Schlag, welche dieser so gierig verschlang, dass Breuer seinen jungen Freund drängte, sich vom silbernen Kuchenwagen ein zweites Stück auszuwählen. [...] »Aber ja!« Breuer war begeistert. »Eine bedeutsame Einsicht!« Er ließ ein paar Kupferkreuzer auf dem Tisch liegen, und dann schlenderten er und Freud hinaus auf den Michaelerplatz. »Wenn mein Patient diesen anderen Teil in sein Ich aufnehmen könnte, wäre viel gewonnen. Wenn er einzusehen vermöchte, wie natürlich es ist, Trost von seinen Mitmenschen zu erhoffen, das genügte schon!«
Sie gingen den Kohlmarkt hinab und trennten sich dann im Gedränge am Graben. Freud schlug den Weg durch die Naglergasse zum Krankenhaus ein, Breuer schlenderte über den Stephansplatz Richtung Bäckerstraße. Die Nummer 7 lag schräg hinter den hochaufragenden romanischen Türmen des Westwerkes des Stephansdoms.