Das Vaterspiel
Zu Silvester 1963 war mein Vater das erste Mal im Haus seiner künftigen Schwiegereltern in Scheibbs. Es sollte für Jahre das letzte Mal sein. Mein Vater war immer noch Vorsitzender des Verbands Sozialistischer Studenten und gehörte als solcher auch dem Parteivorstand an. Meine Mutter hatte gerade ein Trimester in der Hauptschule am Henriettenplatz unterrichtet. Obwohl in Wien damals noch ein Mangel an Hauptschullehrern herrschte, waren Monate vergangen, bis sie die Stelle bekommen hatte. Die Beamten im Stadtschulrat sagten zu ihr, sie solle in Niederösterreich unterrichten. Dort gehöre sie hin und dort könne sie sicher auch sofort anfangen. Meine Mutter verstand nicht gleich, dass mit der Formulierung, dort gehöre sie hin, das vermutete Parteibuch ihres Vaters gemeint war. Sie hätte sich, als sie dann endlich verstand, worum es ging, darauf berufen zu können, dass sie mit einem Vorstandsmitglied der Sozialistischen Partei liiert sei, aber das wollte sie nicht. Sie wollte nicht ihrem Freund, sondern dem eigenen Können die Stelle verdanken. Meine Mutter blieb hartnäckig; so lange, bis ein Beamter genug davon hatte, bei meiner offenbar begriffsstutzigen Mutter immer noch um den heißen Brei herumreden zu müssen. Er sagte: Ich gebe Ihnen einen Rat. Treten Sie der SPÖ bei. Das tut nicht weh, das kostet nicht viel und Sie haben Ihren Posten.
Eines Tages fuhr meine Großmutter, ohne das Wissen ihres Mannes, mit der Bahn nach Wien, im mich, ihr Enkelkind, zu sehen. Mein verblüffter Großvater fand am Nachmittag, als er von der Schule heimkam, eine entsprechende Nachricht vor. Er setzte sich sofort ins Auto und fuhr ebenfalls nach Wien. Eigentlich wollte er meine Großmutter daran hindern, die Wohnung ihrer Tochter zu betreten, aber er kam zu spät.
Meine Eltern wohnten damals in einer kleinen Gemeindewohnung in der Bonygasse im Stadtbezirk Meidling, nicht weit von der Gemeindewohnung meiner Wiener Großeltern, aber auch nicht weit von der Hauptschule am Henriettenplatz, von der meine Mutter ein paar Monate früher in Mutterschaftsurlaub gegangen war. Als mein Großvater bei der Wohnung eintraf, läutete er und rief, ohne eine Reaktion abzuwarten, meiner Großmutter zu, sie solle sofort herauskommen. Meine Großmutter öffnete die Tür. Mein Großvater sah mich in den Armen der Großmutter und war zunächst sprachlos. Miene Großmutter sagte: Du kannst hereinkommen, er ist nicht da. Mein Großvater kam auf mich zu, kitzelte mich unterm Kinn und folgte uns in die Wohnung. Von da an gab es ein paar Jahre, in denen meine Eltern und die Scheibbser Großeltern miteinander verkehrten. Meine Mutter fuhr mit mir zwei-, dreimal im Jahr nach Scheibbs. Mein Vater war hin und wieder dabei. Meist fuhr er nach einem Begrüßungsschluck gleich wieder fort
Zum dreizehnten Geburtstag wünschte sich Klara eine Getreidemühle. Von da an hatte sie meist irgendwelche angebrannten Laibchen auf dem Teller. Auf dem Küchentisch standen Jutesäckchen mit verschiedenen Sorten von Körnern. Getreide und Mehl waren in der Umgebung der Mühle auf dem Boden verstreut. Klara musste ihr Dinkellaibchen selber kochen. Aber immerhin saß sie in ihrer ersten vegetarischen Phase mit uns bei Tisch. Ein paar Monate lang konnte sie uns Fleischessern noch zusehen, konnte sie uns noch riechen. Das sollte sich ändern. Sie begann für den Tierschutzverein Vier Pfoten Flugblätter zu verteilen, nicht nur in der Kärntner Straße und am Stephansplatz, auch bei uns zu Hause im Speisezimmer. Wenn wir beim guten Paprika-Henderl saßen, hielt sie uns das Foto eines gigantischen Käfigbaus unter die Nase. Man sah die Flucht eines aufgetürmten Zellengeheges, voll gestopft mit Tausenden von Hühnern.
Seit gut einem Jahr hatte ich meine Schwester nicht mehr nackt gesehen. Früher, in der Gemeindebauwohnung, in der es nur ein Badezimmer gab, waren wir alle in der Früh und am Abend nackt herum gelaufen. Das war bei uns nie ein Problem gewesen. Als ich noch ein Kind war, verbrachten wir jeden Sommer zwei Wochen auf einem Nacktbadestrand der Insel Krk. Dort verkehrten auch viele Parteifreunde meines Vaters. Meine Mutter hatte es nicht so gern, wenn sie Bekannte traf, sie meinte, ihr Busen sei zu groß. Mein Vater erzählte, dass ich mich als Zweijähriger auf Krk immer an seinem Pimmel festhielt, als wäre es seine Hand. Wenn wir an den Sommerwochenenden zu Alten Donau baden fuhren, wählten wir meistens die FKK-Abteilung. Auch dort traf mein Vater viele Bekannte. Die Badeferien auf der Insel Krk hörten leider auf, als mein Vater zu Geld kam und die Urlaubsziele immer ferner und teurer wurden. Mein Vater war finanziell an einem Grundstück in Gmunden beteiligt und fuhr an den schönen Wochenendtagen nicht mehr an die Alte Donau, sondern raste nach Gmunden. Und seit wir im neuen Haus mit drei Badezimmern wohnten, eines für die Eltern, eines für die Kinder und eines für die Gäste, hatte ich weder meinen Vater noch meine Mutter je wieder nackt gesehen.
Es wird gleich dunkel, wo bleibt sie nur? Ich hab von diesem Lehrer keine Telefonnummer, ich weiß ja nicht einmal den Namen.
Gerhard heißt er, sagte ich.
Du kennst ihn?
Ja, ich habe ihn am Samstag im U4 gesehen.
In der Disco? Wieso, ist der noch so jung?
Ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein Jahr jünger. Im U4 ist er mit seiner Band aufgetreten.
Mit seiner Band. Warum sagt mir das keiner? Wie heißt die Band?
Die Geilen Säcke.
Wie? Das darf doch nicht wahr sein. Was weißt du noch über ihn?
Er sieht vielleicht etwas ungewöhnlich aus, aber er ist ganz nett.
Was heißt ungewöhnlich aussehen? Hat er lange Haare?
Nein, eher wenige Haare. Ein Teil fehlt, der andere Teil steht ihm dafür zu Berge.
Was erzählst du da?
Er hat einen Irokesenschnitt. Und viel Leder und Eisen. Wie Punks halt aussehen.
Ich weiß nicht, wie Punks aussehen, ich kenne keine Punks. Bring mich sofort hin.
Ich kann es dir beschreiben, aber ich bringe dich nicht hin. Meine Schwester ist kein Kind mehr.
Kein Kind? Natürlich ist sie ein Kind. Was soll sie sonst sein mit sechzehn Jahren. Sag mir, wo das ist.
Und so beschrieb ich meiner Mutter das Haus am Sechshauser Gürtel und erklärte ihr, wo sich der Kellereingang befand. Die Geilen Säcke waren nicht nur eine Band, sondern auch eine Wohngemeinschaft. Sie hatten im Nachbarhaus einen Keller gemietet und ihn zum Proberaum ausgebaut. In dem großen, von der Straßenseite her begehbaren Raum hatte davor ein alter Tischler gearbeitet. Er war in Pension gegangen und hatte die meisten Maschinen verkauft. Den Großteil des Werkzeugs und die restlichen Holzvorräte hatte er seinen Nachmietern überlassen, die daraus in den Keller einen zweiten, schallisolierten Raum hineinbauten. Als ich Klara die ersten Male vom Sechshauser Gürtel abholte, waren sie damit noch nicht fertig. Ich sah mir die Konstruktion genau an. Der innere Raum war mit Dämmmaterial gegen Schall isoliert. Seine Wände hielten zu den Mauern und zur Decke des Kellers etwa 20 Zentimeter Abstand, ohne sie je zu berühren, sodass keine Schwingungen auf das Gebäude übertragen werden konnten. Der Proberaum war so gut isoliert, dass man auf die Straße hinaus nicht einmal das Schlagzeug hören konnte. Siebzehn Jahre später sollte ich diesen Raum in den USA nachbauen
“Meine Tochter ist da bei ein paar so Halbstarken oder Halbglatzerten in der Wohnung, und ich muss sie möglichst ohne Aufsehen rausholen. Ja, sie ist minderjährig. Gerne, ich warte. Mein Vater legte die Hand auf die Sprechmuschel. Das werden wir gleich haben, sagte er zu mir. Wirst sehen, das kriegen wir anstandslos hin. Dann meldete sich offenbar wieder jemand. Gut. Sehr gut. Die Adresse ist, Moment. Sag schnell die Adresse. Er hielt mir das Telefon vor den Mund. Die Nummer weiß ich auch nicht, aber ich kann das Haus beschreiben. Es ist am Sechshauser Gürtel. Wenn man vom Westbahnhof kommt, nach der U-Bahn-Station Gumpendorfer Straße, knapp vor der Wienzeile, rechts abbiegen und dann das erste Haus rechts. Schräg gegenüber vom Puff. Haben Sie es verstanden?, fragte mein Vater. Offenbar gegenüber von der Sechshauser Marie. Nummer haben wir keine, aber ich werde dort sein. Und kein Blaulicht, keine Presse, kein Aufsehen. Danke schön. Ja, ebenfalls. Als wir zum Sechshauser Gürtel kamen und in die abschüssige Straße nach rechts einbogen, war dort schon, knapp hinter dem Puff, ein Polizeiauto geparkt. Auf dem Gehsteig standen zwei Frauen, nur mit hochgeschnittenen Bodys bekleidet. Sie rauchten und schauten zu uns herüber. Der Chauffeur blieb direkt hinter dem Polizeiauto stehen. Welche Wohnung ist es, fragte mein Vater. Ich wollte, um mich besser zu orientieren zu können, das Autofenster hinabdrehen, aber es hab keine Kurbel. Ich drückte einen Knopf, doch auch da rührte sich nichts. Dieses scheiß Fenster geht nicht auf, sagte ich.” (S. 167f)
Na gut, das hätten wir, sagte mein Vater. Er rieb sich die Augen. Und wenn du dir noch einmal so einen Blödsinn einfallen lässt, fuhr er fort, hole ich dich wieder ab. Aber für die Burschen wird es dann nicht mehr so glimpflich ausgehen. Du weißt hoffentlich, dass ich sie auch belangen könnte, zumindest diejenigen von ihnen, die schon volljährig sind.
Klara schwieg weiter.
Du siehst das jetzt sicher falsch, sagte ich zu Klara. Ich habe zu dir gehalten.
Und da gab Klara das einzige Wort während der ganzen Fahrt von sich: Arschloch.
Ts, ts, ts machte mein Vater. Er hat Recht, er hat zu dir gehalten.
Aber meine Schwester schien das nicht zu interessieren. Wir fuhren schweigend die Koppstraße hinauf. Eine Weile dachte ich einen kurzen Satz und dann, nach mehreren Anläufen, sagte ich ihn: Ich ziehe aus.
Recht hast du, antwortete mein Vater mit gespielter Begeisterung. Werde endlich selbstständig. Ich habe mit neunzehn auch nicht mehr daheim gewohnt. Ich war im Sprengel tätig, in der Bezirksgruppe und im Studentenverband. Das waren mindestens drei Versammlungen pro Woche. Zusätzlich ging ich in Meidling auch noch kassieren. Ich kenne in unserem Sprengel nicht nur jeden Gemeindebau, ich kenne jede zweite Wohnung. Und dann habe ich auch noch studiert. Und zwar wirklich studiert. Bisher habe ich ja zugesehen und nichts gesagt. Aber mir fällt schon auf, dass du angeblich seit zwei Semestern studierst, und ich habe keinen einzigen Schein zu Gesicht bekommen. Ich sehe dich immer nur vor dem Computer sitzen.
Okay, sagte ich, ich suche mir was, und dann ziehe ich aus.
Gut, mach das, sagte mein Vater. Er rieb sich wieder die Augen. Gähnend fügte er noch hinzu: Ich werde es Mathilde beibringen.
Im Institut für Publizistik fiel mir eine kleine, dunkelhaarige Studentin auf, die immer eine Kopfbedeckung trug. Hin und wieder war es eine Kappe oder ein Schiffchen, aber meist war es ein Hut. Das gab ihr eine besondere Note. Niemand sonst trug einen Hut. Ich suchte ihre Nähe. In Lehrveranstaltungen saß ich immer hinter ihr und betrachtete ihren Hut. Sie musste mindestens zehn hüte besitzen. So verschieden sie auch geformt waren, eines hatten sie gemeinsam, sie waren alle schwarz. Die Studentin kam immer allein. So wie ich schien sie niemanden bei der Publizistik zu kennen. Sie setzte sich in die Mitte der Bankreihe. Diejenigen, die neben ihr Platz nahmen, grüßte sie beiläufig, aber sie sprach nicht viel mit ihnen. Aus den wenigen Wortfetzen, die ich aufschnappte, schloss ich, dass sie aus Deutschland kam. Es war nicht zu übersehen, dass sie geschminkt war. Auch darin unterschied sie sich von den meisten anderen. Wenn sie den geflochtenen Basthut mit der breiten Krempe trug, hielten die Nachbarn größeren Abstand. Ihr Hut vollführte während der gesamten Lehrveranstaltung eine Kippbewegung, wie eine Kinderwippe. Zeigte die hintere Krempe nach oben, schrieb die Studentin mit, zeigte sie nach unten, schaute die Studentin den Professor an. Es gelang mir nicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen. In einem Proseminar achtete ich darauf, durch welche Hände die Anwesenheitsliste zu mir kam, und zählte dann die Namen zurück. Sie hatte M. Madonick auf die Liste geschrieben.
Im Vorbeigehen sah ich sie einmal im Cafe Maximilian an einem Fensterplatz sitzen. Sie nahm aus einer grünen Packung eine lange Zigarette und zündete sie an. Diese Zigarettensorte gab es in Österreich nicht. Ich ging weiter, blieb dann aber stehen und zündete mir ebenfalls eine Zigarette an. In einem Schaufenster lagen medizinische Geräte: Inhalationsapparate, Sezierbesteck und bogenförmige Zangen aus Edelstahl, die ich keinem besonderen Zweck zuordnen konnte. Daneben standen kleine Kärtchen mit lateinischen Aufschriften, die von der Sonne so ausgebleicht waren, dass man sie nur noch mit Mühe entziffern konnte. Auf den Geräten hatte sich Staub abgelagert. Ich rauchte die Zigarette zu Ende, dann ging ich zurück. M. Madonick spielte mit ihrem dünnen Silberring. Sie drehte ihn, als wollte sie eine Inschrift lesen. Der Ring war nicht ganz rund. Er war vielleicht acht- oder zehneckig. Die Augen von M. Madonick waren durch die Hutkrempe verdeckt. Sie blickte nicht auf. Der Platz ihr gegenüber war nach wie vor frei. Vor dem Eingang zum Kaffehaus blieb ich stehen. Ich scheute die Prozedur des Ansprechens und das falsche Herumgerede, das damit verbunden war. Ist hier noch frei? Kennen wir uns nicht? Du studierst doch auch Publizistik? Warum sollte ich so blöde Fragen stellen, wenn ich doch alles über sie wusste, was man vom Beobachten wissen konnte. Ich könnte sie fragen, warum sie einen bestimmten Hut, nämlich den, den sie auch heute trug, allen anderen vorziehe. Ich könnte sie fragen, warum sie so oft Kleider trage. Ich könnte sie fragen, was sie an weißen Strumpfhosen und Pumps so attraktiv finde? Aber wollte ich das wirklich wissen? Waren das fragen, die mich ernsthaft beschäftigten? Soll sie doch tragen, was sie will. Ich werde einfach auf sie zugehen und sagen: Ich habe dich ein halbes Jahr lang beobachtet, und jetzt möchte ich wissen, ob du wirklich so interessant bist, wie du auf mich wirkst. Aber das tat ich nicht. Ich betrat nicht einmal das Kaffeehaus.
Im zweiten Semester saß ich noch immer in den Proseminaren für Anfänger, während M. Madonick offenbar ihre Prüfungen abgelegt hatte und nun andere Veranstaltungen besuchte. Ich sah sie nur noch bei der Hauptvorlesung im Auditorium maximum, zu der sie manchmal mit einer Freundin kam. Auch die Freundin war auffällig. Sie hatte einen enorm großen Busen. So groß, dass es ihr die Schultern nach vorne zog. Jedenfalls wirkte es so, wenn ich sie von hinten betrachtete. Mein Blick ruhte auf diesem Paar. Linker Hand die Hutbewegungen über einem aufrechten Rücken, daneben ein Katzenbuckel, über die lange, brünette Haare herabfielen. Auch im zweiten Semester lernte ich M. Madonick nicht kennen. Das geschah erst zu Beginn des dritten Semesters. Ich kam ins Publizistikinstitut, um die Mitteilungen auf der Anschlagtafel zu lesen und zu sehen, was es neues gab. M. Madonick kam aus dem Sekretariat heraus, schaute mich an und grüßte mich. Ich grüßte zurück. Ihre Haare waren nun kürzer. Bei den Wangen bildeten sich zwei nach vorne ragende Spitzen.
Wir gingen wieder auf den Gang hinaus. Ich nahm mir vor, sie als Nächstes zu fragen, ob ihr Vater Diplomat oder etwas Ähnliches sei. Irgendwie musste ich das Gespräch fortsetzen. Sie kam mir zuvor.
Hast du Zeit für einen Kaffee?
Ich nickte, blickte auf die Uhr und sagte: Ja, ich habe noch Zeit.
Gut, dann gehen wir ins Maximilian.
Auf dem Weg dorthin, es war nur eine breite Straße zu überqueren, erzählte sie mir, ihr Vater sei Kameramann und auch die Mutter arbeite beim Film.
Wir sind von Set zu Set gezogen, sagte sie. Im Gymnasium wollte ich dann endlich einmal ein paar Jahre in derselben Schule, bei denselben Lehrern und bei denselben Freundinnen bleiben. Als ich darauf bestand, hat mein Vater gerade in Berlin gedreht. Und so bin ick Berlinerin jeworden.
Ich fragte sie, wie es komme, dass sie zwei Familiennamen habe, und sie antwortete:
Weil meine Eltern nicht verheiratet sind. In den USA und in Deutschland habe ich den Namen meines Vaters verwendet, aber die österreichischen Behörden verlangen, dass ich den Namen meiner Mutter trage, weil er in der Geburtsurkunde und im Pass steht. Wahrscheinlich müsste ich das in den USA ändern lassen, aber dort lebe ich ja nicht mehr. Und so ist bei mir alles etwas komplizierter als bei anderen.
Ich hielt ihr die Eingangstür zum Cafe Maximilian auf. Sie bedankte sich. Alle Fensterplätze waren besetzt. Wir durchquerten den Raum und gingen weiter ins Hinterzimmer. Dort tagte eine Maoistenrunde. Einer von ihnen studierte Publizistik. Er grüßte herüber, als wären wir alte Freunde. Als ich mich schon wieder abgewandt hatte, rief er mir nach: Sag deinem Alten, wenn er die verstaatlichte Industrie zerschlägt, ist das Verrat an der Arbeiterklasse. Die wird sich zu wehren wissen.
Ich drehte mich um, die Maoisten lachten mit zusammengebissenen Zähnen.
Okay, sagte ich, ich werde es ihm ausrichten.
Dann verließ ich schnell das Hinterzimmer. Da an den Fenstern noch immer nichts frei war, setzten wir uns an einen in der Mitte des Raumes stehenden Tisch. Am liebsten wäre ich wieder gegangen. Ich fühlte mich nicht wohl, wenn Leute hinter meinem Rücken saßen. Mimi bestellte Kaffe, ich ein Bier.
Sie fragte mich: Ist es eigentlich schwer, wenn man der Sohn eines Ministers ist?
Und ich antwortete: Nein. Ich werde nur selten daruf angesprochen. Das vorhin war eine Ausnahme.
Mimi war noch irgendwo verabredet und musste gehen. Ich bot ihr an, den Kaffee zu zahlen, sie ließ es nicht zu. Sie schrieb ihre neue Adresse auf eine Serviette: Mondscheingasse. Sie sagte, das sei eine Seitengasse von der Neubaugasse, zwischen Mariahilfer Straße und Burggasse. Ich solle bei Safranski klingeln. Sie schrieb mir auch diesen Namen auf die Serviette. Zum Abschied gaben wir uns die Hand.
Bis nächste Woche, sagte ich.
Sie antwortete: Wenn der Vormieter bis dahin seine Sachen abholt. Wahrscheinlich sehen wir uns vorher noch am Institut.
Ich sah sie an den Fenstern vorbeigehen, hinunter Richtung Votivkirche. Ich blieb noch ein wenig sitzen, dann fuhr ich zu meinem Großvater in den Stadtteil Meidling. Als wir noch in der Nähe im Gemeindebau gewohnt hatten, war ich oft, wenn er etwas Handwerkliches getan, zum Beispiel die Wohnung ausgemalt hatte, bei ihm gewesen. Mein Wiener Großvater machte alles selbst. Er hatte auch die meisten Möbel selbst hergestellt. Dabei hatte er keinen großen Kellerraum zur Verfügung. Er schob im Wohnzimmer den Esstisch zur Seite, rollte den Teppich ein, legte auf dem Fußboden Zeitungen aus und stellte Zimmerböcke darauf. Das war seine ganze Werkstatt, Zimmerböcke im Wohnzimmer. Darauf wurde gebohrt, gesägt, gehämmert, geschraubt, gekittet und gestrichen. Nichts stellte er auf dem Boden ab. Alles ruhte immer auf den Zimmerböcken. Und wenn er ausmalte, verwendete er, um die Decke zu erreichen, nicht eine Leiter, sondern stellte auch dafür die Zimmerböcke auf und legte ein dickes Brett darüber. Als Kind hatte ich ihn einmal gefragt, warum diese Dinger Böcke heißen, und er hatte geantwortet, weil sie vier Beine haben, einen Kopf und einen Schwanzstummel, wie Böcke eben.
Bevor ich am Montag gegen Mittag mit Eimer und Walzgitter zu Mimi fuhr, kaufte ich mehrere Abdeckplanen. Vor dem Haus in der Mondscheingasse nahm ich die Serviette aus der Tasche und vergewisserte mich, dass ich richtig war. Alle Namensschilder waren mit Schreibmaschine getippt, nur der Name Safranski war mit Kugelschreiber auf eine Klebeetikette geschrieben. Ich klingelte, aber es öffnete niemand. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass niemand zu Hause war. Vermutlich funktionierte die Klingel nicht. Leider hatte ich keine Telefonnummer. Ich stellte den Eimer auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab und wartete, dass Mimi oder die Freundin, die vermutlich Brigitte Safranski hieß, herabschaute und mich bemerkte. Bald taten mir die Füße weh. So setzte ich mich auf die Planen und lehnte mich an die Hauswand. Ich schaute zu Fensterreihen hoch, wusste aber nicht, in welchem Stock ich suchen sollte. Am ehesten kamen der erste und der vierte Stock in Frage, weil es dort ein paar Fenster ohne Vorhänge gab. Die beiden Frauen waren vielleicht ahnungslos. Sie hatten nicht mitgekriegt, dass ihre Klingel nicht funktionierte. Sie schauten auf die Uhr. Mimi sagte: Da hat wieder einer den Mund zu voll genommen, und ich habe es ihm tatsächlich geglaubt. Irgendwann würde eine von ihnen aus dem Fenster schauen. Und dann: Oh, Gott, da ist er ja. Hast du ihn läuten gehört?
Hunde bleiben stehen und schnüffelten an mir. Sie wurden von den Herrchen und Frauchen weitergezogen. Die Hundebesitzer drehten sich um und schauten zurück, mit düsteren Blicken, als ob sie mich dafür strafen, dass ich es wagte, ihren Hunden im Wege zu sitzen. Ich erhob mich und ging am Gehsteig auf und ab. Es machte wenig Sinn, hier weiter zu warten. Ich sollte zu einer Telfonzelle gehen und im Telefonbuch nachsehen, ob die Nummer einer Brigitte Safranski in der Mondscheingasse eingetragen ist. Ich könnte natürlich auch unter Mimi Madonick und Mimi Kralikauskas nachsehen. Vielleicht hatte sie den Termin einfach vergessen. Oder es war ihr etwas dazwischengekommen, und sie konnte mich nicht verständigen, weil wir eine Geheimnummer hatten. Von der Seite der Neubaugasse sah ich eine mir nicht unbekannte Gestalt mit einem Einkaufskorb kommen. Es war die Frau mit dem Katzenbuckel, die in den Vorlesungen oft neben Mimi saß. Ich stand auf und überquerte die Straße. Sie nahm einen Schlüssel aus dem Korb, dann bemerkte sie mich.
Als ich mit der ersten Wand fertig war, zog ich die Handschuhe aus, zündete mir eine Zigarette an und betrachtete mein Werk. Noch sah die ganze Wand fleckig aus, weil die Farbe nicht regelmäßig getrocknet war. Am Boden hatte ich weit weniger Farbspritzer hinterlassen als bei uns in der Garage. Ich wusste nicht, wohin mit der Asche meiner Zigarette. Ich ging in die Küche und nahm eine Untertasse aus dem Schrank. Auf dem Fenster klebten Strohsterne. Wenn ich vom Kühlschrank aus schräg durch die Scheiben schaute, konnte ich ein kleines Stück von der Neubaugasse sehen. Ich sah den roten Doppeldeckerautobus der Linie 13A vorbeifahren. Und dann war mir, als würde ich unter den vielen Fußgängern, die an den Schaufenstern entlanggingen, auch Brigitte und Mimi erkennen. Mimi mit ihrem auffälligen Hut, Brigitte mit ihrem riesigen Busen. Sie waren nur kurz zu sehen, und ich war im nächsten Moment schon überzeugt, dass ich mich getäuscht hatte. Brigitte war wahrscheinlich in ihrem Zimmer. Ich suchte im Kühlschrank nach Bier. Da ich keines fand, öffnete ich einen Tetrapak mit Apfelsaft. Zuerst trank ich nur ein Glas, im Laufe des Ausmalens leerte ich die ganze Packung. Aus Brigittes Zimmer war nichts zu hören, nicht einmal mehr Musik.
Letztes Semester tauchte er plötzlich in der Publizistik auf. Und es war mir fast unangenehm, ihn zu kennen. Darf ich Sie etwas fragen, sagte er zu mir. Wenn er wenigstens gesagt hätte: Kennst du mich noch?, oder: Darf ich eh du sagen? Nein, er siezte mich. Ich war völlig perplex. Na klar, habe ich gesagt, was gibt es denn?
Ich habe gehört, dass Sie ein Zimmer vermieten.
Das müssen seine Eltern von meinen Eltern erfahren haben. Der Vormieter von diesem schönen weißen Raum hier war gerade ausgezogen. Das war ein Bühnenbildner aus Karl-Marx-Stadt, der ein Jahr lang für das Burgtheater gearbeitet hatte. Du hast ja den Uwe noch kennen gelernt.
Brigitte hatte sich an Mimi gewandt.
Ja, aber nur zum Abschiedsfest.
Oh Gott, war das ein trauriges Fest. Er hat ja eigentlich bleiben wollen. Aber er hat auch keine Lust gehabt, sich mit der DDR anzulegen und den Dissidenten zu spielen. So richtig wohl gefühlt hat er sich nicht bei uns. Einmal hat er zu mir gesagt, es seien gar nicht so sehr seine Freunde, die ihm fehlen. Am meisten fehle ihm die Bedeutung seiner Arbeit. Hier sei alles so bedeutungslos. Man könne etwas so machen, oder auch anders. Zwei Tage nach der Premiere sei das schon vollkommen egal.
Wurden Ihnen eigentlich auch die Euroschecks gestohlen?, fragte der Bankbeamte. Schlagartig, so erzählte Brigitte, war mir klar, was der fremde Mann in meinem Schlafzimmer wollte. Er hatte die Euroschecks nicht gefunden. Sie waren in einer meiner Handtaschen, die, auf den ersten Blick sichtbar, am Wandhaken hängen. Auf dem Konto fehlte kein Geld. Aber als dieser Bankbeamte seine sachliche Frage gestellt hatte, fiel mir ein, was alles hätte passieren können. Nicht nur das Geld könnte fort sein. Ich hatte ja nicht einmal das Schlafzimmer abgesperrt. Der Mann hätte mich im Schlaf überfallen können.
Ich fuhr zur Universität. Zuerst ging ich ins Neue Institutsgebäude, zum Institut für Publizistik. Aber dort war Günther an diesem Tag noch nicht gesehen worden. So versuchte ich es im Juristentrakt des Hauptgebäudes. Ich fragte alle Studenten, die ich traf. Einige, vor allem, die älteren, kannten ihn. Eine Studentin meinte, der sei jetzt sicher in der Strafrechtsvorlesung. Die werde bald zu Ende sein. Sie nannte mir den Hörsaal. Ich stellte mich vor der Tür auf und wartete. Günther kam aus dem Hörsaal, korrekt gekleidet, wie immer, im Anzug und Krawatte. Er grüßte und gab sich überrascht, mich hier zu sehen.
Komm mit, sagte ich, ich muss mit dir reden.
Was ist los?, fragte er. Er tat, als ob er völlig ahnungslos wäre.
Du weißt genau, was los ist, sagte ich. So geht das ja nicht.
Ich zog ihn in eine Ecke. Jetzt erkläre mir einmal, sagte ich, wer da heute Nacht in der Wohnung war.
Was heißt, in der Wohnung war?
Es geht entschieden zu weit, dass in der Nacht wildfremde Typen auftauchen und auch noch in mein Schlafzimmer eindringen.
Günther gab sich immer noch ahnungslos. Er fragte scheinheilig: War jemand in der Wohnung?
Ich fuhr ihn an: Ich spreche von demjenigen, der plötzlich in meinem Zimmer stand und der mir dann das Geld und die Kreditkarten geklaut hat.
Was ist denn das?, sagte Brigitte. Es wird ja heute viel zu früh dunkel.
Sie hatte Recht. Es war gerade erst halb acht, aber es war innerhalb von ein paar Minuten dunkel geworden. Brigitte holte Kerzenleuchter. Ich trug das Geschirr in die Küche und stellte es in das Abwaschbecken. Mimi hatte die halbe Portion Spaghetti übrig gelassen. Ich streifte sie mit der Gabel vom Teller in den Müll. In der Neubaugasse begannen die Menschen zu laufen. Kurz danach waren sie nicht mehr zu sehe, so dicht prasselte der Regen herab. Die Küche blitzte auf und gleich darauf krachte es so laut, dass ich meinte, das Haus fliegt in die Luft.
Als ich in Mimis Zimmer zurückkam, brannten zwei Kerzen. Mimi hatte sich auf dem Boden ausgestreckt und den Kopf in Brigittes Schoß gelegt. Ihr Hut lag daneben. Die Kerzen flackerten im Wind, der durch das offene Fens-ter hereinfuhr. Brigitte streichelte Mimis Wange. Der auf die Straße und die Dächer niederprasselnde Regen wurde durch den leeren Raum so verstärkt, dass es sich anhörte, als stünde man hinter einem Wasserfall.
Als Brigitte mich bemerkte, sagte sie: Ich dachte, du bist duschen.
Nach dem Frühstück fuhren Klara und ich gemeinsam mit dem Bus zum Hauptgebäude der Universität an der Ringstraße.
Jetzt einmal ernsthaft, sagte ich. Was willst du nun eigentlich studieren?
Klara hob die Schultern. Keine Ahnung, ich schau mich einmal um, was es gibt.
Vor der Uni war eine Lautsprecheranlage aufgebaut. Auch hier wurde gerade Amadeus von Falco gespielt. Da-nach ergriff ein junger Mann im Pullover das Mikrofon und wetterte gegen den Plan der Regierung, im Ennstal eine Schnellstraße zu bauen. Er hatte Mühe, ganze Sätze zu for-men. Er fing irgendwo an und brach, da er kein Ende fand, den Satz ab, um einen neuen zu beginnen, mit dem es ihm nicht besser ging. Aber das schien ihn keineswegs zu stören. Die Vollständigkeit der Sätze war ihm nicht wich-tig. Er wollte bestimmte Signalwörter verbreiten, und die brachte er immer unter. Sein Lieblingswort, das er in jedem Halbsatz benutzte, war Wahnsinn. Ein Wahnsinnsprojekt, ein Wahnsinnsgeld, ein Wahnsinnslärm.
Wenn unser Alter noch Student wäre, sagte ich zu Kla-ra, meinst du, er würde hier stehen und gegen den Ver-kehrsminister protestieren?
Meine Schwester verzog den Mund. Was wenn, sagte sie. Das Problem ist ja gerade, dass er nicht mehr studiert, sondern die Landschaft zubetoniert.
Die Musik wurde wieder eingeschaltet. Aus dem Laut-sprecher dröhnte nun Life is Life von Opus. Klara nahm dem Mann im Pullover ein Flugblatt ab. Plötzlich stutzte sie. Oh, oh. Haben wir dieses Bild nicht schon irgendwo ge-sehen?
Sie hielt mir die Karikatur vors Gesicht. Komm, sagte ich und zog sie weiter. Sie warf das Flugblatt im Vorbei-gehen in eine Mülltonne.
Ich zeigte ihr, wie man bei der Universität das Haupt-portal mit den vorgelagerten Stufen vermeiden und statt-dessen durch den Hof zur Inskriptionsstelle gelangen kann. Dort hatten sich lange Schlangen von Studenten gebildet. Meine Schwester musste sich bei der längsten anstellen, bei der für die Immatrikulation. Wir verabredeten uns für später. Während sie auf ihre Formulare, Broschüren und Zahl-scheine wartete, ging ich in die Buchhandlung von Heinz Kolisch. Auf einem Büchertisch gegenüber vom Eingang la-gen stapelweise die Neuerscheinungen. Ich nahm ein Buch nach dem anderen zur Hand und las die Umschläge. Der bärtige Buchhändler blieb kurz bei mir stehen, nahm von einem Stapel ein Buch und hielt es mir vors Gesicht. Wenn Sie sich für österreichische Literatur interessieren, sagte er, wäre das vielleicht etwas.
Ich nahm das Buch zur Hand. Es war dünn, was gut war, weil ich bei dicken Büchern bislang selten ans Ende ge-kommen war. Doch dann las ich, das Buch handle vom Leben und Sterben auf dem Land, und so legte ich es wieder zurück. Mich interessierte weder das Leben noch das Ster-ben auf dem Land. Ich kaufte mir ein Vorlesungsverzeich-nis und verließ die Buchhandlung.
Mit der Rolltreppe fuhr ich in die Schottenpassage hinab, zu jenem Café, in dem ich mich mit Klara verabredet hatte. Die Tische waren hinter hohen Glaswänden. Man konnte von jedem, der vorbeiging, sofort gesehen werden. Außerdem hielt direkt davor eine vielbefahrene Straßen-bahnlinie. Ich dachte mir, vielleicht treffe ich Bekannte, die mir den Semesteranfang erleichtern.
Mimi und Brigitte hatten zu studieren auggehört. Beide hatten als Volontäre gearbeitet und danach eine Stelle bekommen, Mimi beim ORF, Brigitte bei der Tageszeitung Kurier. Die Wohngemeinschaft in der Mondscheingasse gab es nicht mehr. Mimi war ausgezogen. Ich hatte den Kontakt zu ihr verloren.
Ich trank ein Bier und suchte mir aus dem Vorlesungs-verzeichnis Veranstaltungen für das Fach Publizistik he-raus. Im Wesentlichen waren es dieselben Veranstaltungen, für die ich mich schon im vorigen Semester inskribiert hat-te. Eigentlich studierte ich nur noch, weil es mir eine gewisse Unabhängigkeit garantierte. Ich bekam da und dort Ermäßigungen, bei der Bahn, bei den Wiener Verkehrsbetrieben, im Theater, ich konnte meinen Zivildienst auf-schieben, und ich konnte einen Beruf angeben. Man wird ständig gefragt, was man macht. Und da war es gut, eine Antwort zu haben.
Ich beobachtete die Leute, die in der Passage vorbeigin-gen. Mein Bier ging zu Ende, und so bestellte ich ein zwei-tes Glas. Diese Menschen da draußen schienen alle zu wis-sen, was sie wollten. Sie liefen zielstrebig ihren Plänen nach. Sie hatten Vorstellungen, was sie als Nächstes ma-chen, und was danach, und wie es überhaupt mit ihnen weitergehen soll. Die dort mit dem Haarreifen, Lehrerin vielleicht oder Geigenspielerin, die mit der großen Brille war wohl Ärztin, und der mit der Aktentasche und dem komischen Gang ein klarer Fall von Jurist. Da ist ein Arbeiter, dort ein Bankangestellter, du die Fette, die so griesgrämig dreinschaut, verkauft entweder irgendetwas oder begnügt sich damit, andere zurechtzuweisen und ihrem Mann das Leben schwer zu machen.
Unter einer Wand von Videoschirmen lag auf einem braunen Karton ein Obdachloser. Er schlief und ließ sich weder durch die direkt über ihm laufende Videoreklame der neuesten Kinohits noch durch das Quietschen der einfahrenden Straßenbahn wecken. Mir geht es eigentlich nicht anders, dachte ich und trank einen Schluck Bier. Auf einem günstigeren Niveau, das schon, aber im Prinzip dasselbe. Ich starrte auf den Sandler und wartete da-rauf, dass er sich bewegte. Die Leute, die sich die Video-reklame anschauten, hielten Abstand zu ihm. Vielleicht stank er.
Dann, nach ein paar weiteren Schlucken Bier, erschien mir alles in günstigerem Licht. Was beklage ich mich. Wie viele träumen davon, nicht arbeiten zu müssen und trotz-dem so gut leben zu können wie ich. Ich bekam im Monat von meinen Eltern fünftausend Schilling. Das ließ sich ver-mutlich noch einige Jahre aufrechterhalten. Ich konnte gra-tis wohnen, zahlte nichts für Strom, Telefon oder Heizung. Was wollte ich mehr. Ich hatte genug Geld, um jederzeit, wenn mir danach war, ausgehen zu können. Ich konnte, wenn eines unserer beiden Autos frei war, und eines war meistens frei, nach Lust und Laune damit herumfahren. Wenn es ein Problem gibt, dann ist es mein Ratzenschädel, nicht die Lebenssituation. Die sollte ich besser genießen, anstatt sie mit der von Sandlern zu vergleichen.
Von weitem sah ich Klara kommen. Sie trug eine Map-pe im Arm. Ihr Unterkörper wiegte beim Gehen hin und her. Die Beine steckten in schwarzen Jeans. Die halblangen, rötlichen Haare flogen ihr über die Schulter. Sie winkte, aber sie schaute dabei nicht zu mir. Eine Person, die gera-de aus der Straßenbahn ausgestiegen war, kam auf sie zu. Ich konnte nicht sagen, ob es ein Frau oder ein Mann war. Sie unterhielten sich, dann schauten sie in meine Richtung. Ich hob die Hand. Klara und der oder die Bekannte kamen ins Café. Es irritierte mich, dass ich das Geschlecht noch immer nicht erkennen konnte. Die Person war ein bekleidetes Knochengerüst. Kurz geschorene Haare, das Gesicht bartlos, aber so kantig, dass ich eher einen Mann als eine Frau zu erkennen meinte. Am bis zum Hals zuge-knöpften Hemd oder an der Bluse drückte sich nicht der geringste Ansatz einer Brust ab. Also doch ein Mann, dachte ich.
Das ist Bibi, sagte Klara.
Irgendwann begann sie von einem Gerhard zu sprechen, und da sie nun auch wieder Gitarre spielte, ging ich ein-fach davon aus, dass es sich um ihren ehemaligen Freund handeln müsse. Dessen Gruppe, die Geilen Säcke, gab es noch. Sie waren in letzter Zeit mit ihren Heavy-Metal-Nummern sogar so erfolgreich gewesen, dass sie eingelad-den waren, am Ersten Mai in der Arena, einem ehemaligen Schlachthofgelände, eine Serie von Freiluftkonzerten zu eröffnen.
Der Erste Mai war in unserer Familie ein notorisches Streitthema. Als Kind hatten mir die Aufmärsche noch Spaß gemacht. Da war ich mit dem Fahrrad, in dessen Spei-chen mein Vater am Vorabend rotes Krepppapier gespannt hatte, bei der Bezirksgruppe der Meidlinger Sozialisten mitgefahren. Die Erwachsenen gingen zu Fuß in der Mitte der Straße, und wir Kinder fuhren mit rot geschmück-ten Fahrrädern den Demonstrationszug entlang bis nach vorne zu den Fahnenträgern, dann in die Gegenrichtung, vorbei an den Straßenbahnern und Eisenbahnern mit ihren jeweiligen Musikkapellen bis zurück zu den Freiheits-kämpfern und zum Bund Sozialistischer Akademiker, die im Meidlinger Aufmarschplan gewöhnlich das Schlusslicht bildeten. Dann drehten wir erneut um und strampelten von den leisen Akademikern wieder nach vorne zu den lauten Eisenbahnern. Wenn wir schließlich beim Burgtheater von der Ringstraße auf den Rathausplatz einbogen, begann ich auf dem hohen Tranparenten geschmückten Podium meinen Vater zu suchen. Er stand dort, vor der Kulisse des neugotischen Wiener Rathauses, inmitten der sozialisti-schen Prominenz und winkte uns zu.
Doch am Ersten Mai, da wollte er mich immer dabeiha-ben. Die Roten Falken seien kein Grund, vom Maiaufmarsch fernzubleiben. Ich könnte mich ja dem Verband Sozialistischer Mittelschüler und später dem Verband So-zialistischer Studenten anschließen. Die Wahrheit ist, mir wurde es zunehmend peinlicher, auf dem Rathausplatz meinem Vater zuzuwinken, aber es fiel mir schwer, ihm das so direkt zu sagen. Und so gab es jedes Jahr die gleichen Diskussionen, und ich drückte mich um klare Antworten herum und bleib schließlich einfach weg, ohne es im Detail zu begründen. Meine Schwester begleitete noch eine Zeit lang meine Mutter. Später bleib auch sie fern. Mein Vater warf uns das jedes Jahr erneut vor.
Schon am Vortag des Ersten Mai fragte er, wer von uns nun zum Fackelzug der Sozialistischen Jugend gehe. Der Einzige, der Jahr für Jahr ging war mein Vater selbst, der sozialistische Berufsjugendliche. Er stand auch dort bei der Kundgebung auf dem Podium, hielt Reden und sang zum Abschluss gemeinsam mit der Sozialistischen Jugend die Internationale. Dann kam er heim und beschwerte sich, dass die Jugend die Internationale nicht mehr singen könne. Er hielt eisern zu seiner Tradition. Selbst als er schon Minister war und gleichzeitig in hun-dert Aufsichtsräten saß, am Ersten Mai zog er in aller Früh von unserem Designerhaus am Rande des Wiener-walds los, um für einen Tag in der Innenstadt den Proletarier zu spielen.
Gehst du eigentlich morgen zu den Geilen Säcken, frag-te ich meine Schwester, nachdem mein Vater seinen Ver-such, wenigstens einen von uns für den Fackelzug zu ge-winnen, aufgegeben hatte und schließlich mit seinem Chaffeur allein in die Innenstadt aufgebrochen war.
Na klar, antwortete Klara. Wir haben sogar schon Karten. Ich gehe mit der Bibi und dem Gerhard hin.
Bis ich dann in Ruhe gefrühstückt und die erste Ziga-rette geraucht hatte, war es gegen zwei Uhr nachmittags, und ich musste zum Konzert aufbrechen, weil ich mit dem Auto meiner Mutter fahren und möglichst in der Nähe der Arena einen Parkplatz finden wollte. Als ich dort eintraf, gut vierzig Minuten zu früh, war der Soundcheck noch im Gange, aber Klara war nirgendwo zu sehen. Gerhard ga auf der Bühne die Kommandos. Ständig rief er dem Mann am Mischpult etwas zu und ließ zwischendurch die Gitar-re aufkreischen. Er hatte nun eine säuberlich rasierte Gla-tze, die in der Sonne glänzte, als hätte er sie mit Fett einge-schmiert. Ich winkte ihm zu, aber er schien mich nicht zu erkennen und schaute wieder weg. Als er mit dem Sound-check fertig war, hatte sich vor der Bühne eine Gruppe von gut hundert Fans versammelt. Weiter hinten war eine Zu-schauertribüne mit Sitzbänken aufgestellt. Dorthin ging ich und suchte mir einen Platz, nicht zu nahe am Laut-sprecher, nicht zu weit von der Bühne, nicht zu sehr von der Sonne geblendet und nicht zu weit unten, um über die vor der Bühne stehenden Menschen sehen zu können. Jeder Platz, so fand ich schnell heraus, hatte Nachteile. Und man sieht von jedem Platz aus sofort die Vorteile der anderen Plätze, aber deren Nachteile sieht man erst, wenn man dorthin gegangen ist und sich niedergesetzt hat. Ich pro-bierte ein paar Plätze aus, konnte mich aber nicht entscheiden, ging schließlich an den Tribünenrand, in die Nähe des Auf-gangs, wo ich dann auch bleiben musste, weil es mittler-weile nichts mehr auszusuchen gab. Klara und Bibi waren noch immer nicht da. Ich zog, meinen Pullover aus, formte ihn zu einer länglichen Wulst und legte ihn neben mich auf die Bank.
Es klarte wieder auf, und es kam sogar die Sonne heraus, als das Konzert noch im Gange war. Mir kam es vor, als hätte der Regen Stunden gedauert. Ich ging in die Arena zurück. Die Bühne war überdacht, aber die Zuhörer stan-den bis zu den Knöcheln in einem Sumpf. Nur wenige hat-ten Regenkleidung oder Schirme bei sich. Sie meisten wa-ren, so wie ich, völlig durchnässt. Das trübte die Stimmung aber nicht. Von den Menschen, die sich am Bühnenrand drängten und immer noch im Rhythmus der harten Beats sprangen, stieg eine Dampfwolke auf und dann, nach dem Schlussakkord, ein endloses Kreischen und Pfeifen. Wäh-rend die Menschen zum Ausgang drängten, viele von ihnen mit den Schuhen in den Händen, hielt ich mich am Rande der Tribüne an einer Eisenstange fest, um nicht vom Strom mitgerissen zu werden. Auch Gerhard und den beiden Frauen klebten die Kleider am Körper. Meine Schwester trug, wie immer, einen schwarzen Büstenhalter, der nun an der Innenseite des T-Shirts klebte. Bibi, das war deutlich zu sehen, hatte ein leicht vorstehendes Brustbein, aber nicht den geringsten Ansatz eines Busens. Hingegen hatte sie große, abstehende Brustwarzen, auf die ich so lange und offenbar so auffällig schaute, bis Bibi ihre Bluse von der Brust wegzog und nichts mehr zu sehen war.
Wir fuhren in eine Pizzeria in der Margaretenstraße, in der meine Schwester und Gerhard schon öfter gewesen wa-ren. Dort gab es eine gute vegetarische Pizza. Aber die Kellnerin wollte uns, weil wir so nass waren, anfangs gar nicht Platz nehmen lassen. Gerhard ging zur Wirtin und redete auf sie ein, wobei er gestikulierte, als wäre er ein wasch-echter Italiener. Er hatte Erfolg. Die Wirtin brachte schwarze Abfallsäcke und legte sie auf die Stoffpolsterung der Sitzbank. Prego signori, sagte sie. Gerhard bestellte eine Flasche Chianti, und kurz darauf sah ich meine Schwester das erste Mal Alkohol trinken. Ich begann laut zu lachen, bekam dabei aber den Wein in die falsche Röhre und musste husten.
Was hast du?, fragte Klara
Ich kenne dich überhaupt nicht, antwortete ich mit dem wenigen Atem, den mir das Lachen und Husten ließ. Ich dachte, du bist strikte Antialkoholikerin.
Da seht ihr, wie es bei uns in der Familie zugeht, sagte Klara. Keiner hat eine Ahnung vom anderen.
Stimmt, antwortete ich. Wahrscheinlich hat unser Alter längst zehn Freundinnen, und die Mama geht heimlich auf den Strich.
Die Mama auf den Strich? Das glaubst du wohl selber nicht.
Doch, sagte ich. Ich traue es ihr zu.
Das ist ja nun wirklich der letzte Blödsinn, sagte Klara, und dann suchten wir ein anderes Thema.
Nach dem Essen gingen wir in die Wohnung von Bibi und Gerhard in der Hofmühlgasse, ganz in der Nähe des Margaretenplatzes. Die beiden wohnten in einem Pawlat-schenhaus, bei dem die Wohnungen von einem Arkaden-hof aus begehbar waren. Die Wohnung gehörte den Eltern von Bibi und Gerhard, und so war sie auch eingerichtet. Schleiflackmöbel und ein Kristallluster schon im Vorzim-mer. Bevor die Kinder studierten, hatten die Eltern diese Wohnung nur an Wochenenden benutzt, wenn sie nach Wien in die Oper oder ans Konzert fuhren.
Ich habe Frau Grlovic nie wieder gesehen. Es gab kein Gespräch mit ihr, jedenfalls nicht in unserem Haus. Viel-leicht hat mein Vater sie telefonisch entlassen, oder sie ist von selbst nicht mehr erschienen. Andere Medien griffen das Thema auf. Der Anlass war die Schwarzarbeit, aber der Schwerpunkt der Berichte verlagerte sich immer mehr auf die Einkommensverhältnisse meines Vaters. Ich las die Zeitungen im Café Maximilian. Als ich jedoch die Maoisten-gruppe die Universitätsstraße überqueren sah, ließ ich mei-ne Melange stehen und flüchtete auf die Toilette. Nach einer Weile kam ich heraus und ging, ohne links oder rechts zu schauen, direkt auf den Oberkellner zu, um zu zahlen. Ich setzte meine Lektüre im Café Eiles fort. In den Zeitun-gen waren alle Aufsichtratsposten aufgelistet, die mein Vater innehatte, und daneben standen die Beträge, die er angeblich dafür bekam. Eine Zeitung hatte recherchiert, wie oft er an welchen Sitzungen teilgenommen hatte. Wie-terhin erfuhr ich, dass ihm nicht nur sein Ministerbüro, sondern angeblich noch zwei zusätzliche Büros zur Verfü-gung standen, eines in der Zentrale der verstaatlichten In-dustrie und eines in der Direktionsetage einer Bank. Ich hatte gewusst, dass er an vielen Aufsichtsratssitzungen teil-nahm, aber ich hatte von den Details seiner Nebenge-schäfte und von seinen zusätzlichen Einkommen keine Ah-nung gehabt. Mehrere Tage hintereinander war mein Vater in den Fernsehnachrichten zu sehen, es ging immer um dieselben Themen. Er versuchte sich zu verteidigen. Als das Arbeitsverhältnis von Frau Grlovic begann, sei es noch unter die Geringfügigkeitsgrenze gefallen, und es habe gar keinen Grund gegeben, sie anzumelden. Er sei so mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, dass es ihm völlig entgangen sei, dass sie nun öfter in unser Haus komme.
Soweit ich mich zurückerinnern konnte, trug meine Mutter immer Stützstrumpfhosen. Ihre Beine hatten eine Neigung zu Krampfadern. Meine Mutter meinte, die Stütz-strumpfhosen würden das Schlimmste verhindern. Später, als mein Vater schon viel Geld verdiente, ging sie mehrmals in die Privatordination von Dr. Staudacher, einem bekann-ten Wiener Gefäßchirurgen, der sie am rechten Bein ope-rierte und einige Stellen am linken Bein mit Injektionen be-handelte. Sie war mit dem Ergebnis zufrieden, trug aber weiter ihre Stützstrumpfhosen. Das Wissen um die Qua-litäten ihrer Stützstrumpfhosen gab sie an Bekannte wie eine Geheiminformation weiter. Sie nannte immer das Geschäft in der Mariahilfer Straße, wo diese Strumpfhosen zu bekommen waren, mit gedämpfter Stimme, als wäre es die Adresse einer Pornobar. Meine Mutter hatte noch ein zu-sätzliches Problem, sie hatte kurze Beine. Die von der Länge passende Stützstrumpfhose mit der Nummer 40 war ihr zu eng, sie presste ihr das Blut aus den Beinen. Sie brauchte eine Stützstrumpfhose mit Schenkelüberweite. Aber die war schwer zu bekommen. Am Anfang musste die Strumpfhose meiner Mutter im Geschäft in der Mariahil-fer Straße immer eigens bestellt werden. Nach etwa einer Woche kam der Anruf. Die Stützstrumpfhose sei zum Abholen bereit. Später war meine Mutter in dem Geschäft in der Mariahilfer Straße schon so gut bekannt, das immer eine ihrer Spezialstrumpfhosen auf Lager war. Vielleicht auch, weil meine Mutter diesem Geschäft viele Kunden zu-geführt hatte. Im Bekanntenkreis meiner Mutter gab es bald keine Frau mehr, die nicht Stützstrumpfhosen trug. Selbst die Therapiegaby, deren nackte Füße ich immer bewundert hatte, stand eines Tages, als sie meine Mutter zum Kino abholte, in einer Stützstrumpfhose da.
Als wir noch im Meidlinger Gemeindebau gewohnt hat-ten, war der Wiener Großvater häufig bei uns zu Gast ge-wesen, er wohnte ein paar Häuser weiter, aber seit wir im neuen Haus lebten, war er nur ein einziges Mal zu Besuch gekommen. Er setzte sich auf die weiße Ledergarnitur und sagte: Das ist lächerlich. Er strich mit der Hand über das Leder, rutschte mit dem Körper vor und zurück, lehnte sich gegen den Rückenpolster und richtete seinen Körper wie-der auf. Er fragte: Habt ihr nicht einen anständigen Sessel im Haus?
Wir hatten keinen anständigen Sessel, jedenfalls keinen, der dem Großvater anständig genug war. Die Großmutter sagte, man müsste sich daran erst gewöhnen. Aber der Großvater fragte, wie soll man sich an so etwas Unbeque-mes gewöhnen? Hier ist es ja weiß wie in einem Sanato-rium. Man glaubt, jeden Augenblick könnte die Visite zur Tür hereinkommen. Und dieser Balkon da oben, wozu braucht ihr im Wohnzimmer einen Balkon? Ihr wohnt hier am Wienerwald, dort hinaus müsste der Balkon gehen. Und was steht denn da für eine komische Rakete?
Mein Vater sagte, das sei eine Vergrößerung der Zitrus-presse von Philippe Starck.
Eine Zitruspresse?, fragte mein Großvater. Wieso stellst du dir eine Zitruspresse ins Wohnzimmer?
Einzig das Guernica-Bild gefiel ihm. Aber in diesem Raum, sagte er, verliert es völlig an Bedeutung. Wenn man hier sitzt, hat man das Bild im Rücken.
Dann setz dich dort auf das Sofa, sagte mein Vater, dann hast du das Bild an der Seite und kannst immer hin-schauen.
So ein Bild will ich vor mir haben, sagte der Großvater, nicht an der Seite. Er stand auf und blickte sich weiter im Raum um. Dann fragte er: Habt ihr eigentlich keinen Fern-seher? Mein Vater ließ den Fernsehapparat aus der Kom-mode herausgleiten. Wenigstens das gefiel meinem Groß-vater. Er nahm die Fernbedienung in die Hand und ließ den Apparat ein paar Mal aus- und einfahren. Er schüttelte den Kopf und lachte dabei, als hätte er eine Spielzeugeisenbahn gekreigt. Nobel geht die Welt zugrunde, sagte er. Wir führ-ten ihn noch durch den Rest des Hauses, gingen mit ihm hinauf in den ersten Stock. Das Schlafzimmer meiner Eltern gefiel ihm einigermaßen. Er griff auf die geleimten Holzrundungen und sagte: Da steckt viel Arbeit drinnen. Aber vom Glaszimmer meiner Schwester und von meinem Eisenzimmer war er rundum entsetzt. Er fragte mich, wie ich es hier drinnen aushalte. Aber das wusste ich damals selbst noch nicht so ganz.
Lass ihn doch, sagte meine Großmutter. Die jungen Leu-te leben heute anders.
In einem Rosthaufen?, fragte der Großvater. Da wird man gemütskrank. So etwas Ungemütliches habe ich mein Lebtag nicht gesehen. Beim Gästezimmer irritierte ihn der Sternenhimmel. Er starrte mit offenem Mund zur Decke hinauf. Und das leuchtet auch noch in der Nacht?, fragte er. Da bin ich ja froh, dass ich in Wien wohne und hier nicht übernachten muss.
Mein Großvater konnte sich nicht beruhigen und kam, solange die Familie noch intakt war, nie wieder in unser Haus. Ich dachte damals, es sei eine Geschmackssache und der Großvater sei einfach unfähig, mit der Zeit zu gehen. Später begriff ich, dass es ihm um etwas ganz anderes ging. Er war der Meinung, ein sozialdemokratischer Politiker dürfte sich in seinem Lebensstil nicht so weit von seinen Wählern entfernen.
Mein Vater war als Minister auch für die Privatisierung der verstaatlichten Industrie zuständig gewesen. Große Konzerne wurden in kleine Firmen zerlegt, kleine Firmen wurden in neue Konzerne zusammengefasst. Dabei hatte er sich offenbar über Treuhänder auch seine Anteile gesichert. Jedenfalls war er, als er dann regelmäßig in ein Büro am Schwarzenbergplatz fuhr, an vielen Firmen betei-ligt. Er nahm Kredite auf, schichtete um, gründete neue Fir-men, brachte andere an die Börse. Ich hatte keinen Über-blick, was ihm nun gehörte, woran er beteiligt war oder wie viel er verdiente. Es schien nicht weniger geworden zu sein.
Das Interview war in der farbigen Wochenendbeilage der Zeitung abgedruckt. Mein Vater war gerade aus dem Parteivorstand ausgeschieden und sprach über sein Leben nach der Politik. Er erzählte von seinen wirtschaftlichen Projekten, und er erzählte von seinem neuen privaten Glück, das er gefunden habe. Er erzählte, dass er zu rau-chen aufgehört habe, und er erzählte auch, dass seine neue Lebenspartnerin schwanger sei. Es gab ein großes Farbbild der beiden. Sie standen im Volksgarten vor dem Rosenbeet. Mein Vater hatte den Arm um die Schnepfe gelegt und zeig-te mit der anderen Hand hinüber zum Theseustempel. Viel-leicht sagte er gerade: Da drüben habe ich als junger Stu-dent einmal Haschisch geraucht.
Von da an kam wieder Bewegung in unsere halbe Idylle. Ich fuhr zum Standesamt, um meinen Vornamen ändern zu lassen. Ich wollte nicht länger wie mein Vater heißen. Der Federstrich wuchs sich zu einer umständlichen Prozedur aus, zu einem bürokratischen Akt, der mehrere Monate dauerte. Zum Glück hatte der Beamte den Kurier nicht ge-lesen und kannte meinen Vater auch nicht persönlich. So konnte ich ihm erzählen, dass ich im Computerbusiness tätig sei und dass es zunehmend schwieriger werde, allein die Post in unserem Haus auseinander zu sortieren. Nicht nur bei Anrufen, mittlerweile leider auch bei wichtigen Zahlungen komme es immer wieder zu Missverständnissen und Verwechslungen. Dafür hatte der Beamte großes Ver-ständnis. Ich schlug vor, meinen kirchlichen Taufnamen Rupert anzunehmen, und hatte gleich auch die entsprechende Urkunde mitgebracht. Der Beamte sagte, die Na-mensänderung müsse bekannt gemacht werden, und es hätten alle österreichischen Rupert Kramers, die der Mei-nung sind, ihnen könnte aus einer Namensänderung ein Schaden erwachsen, Einspruchsrecht.
Als ich einmal in der Früh nicht mehr wusste, was ich am Vortag getan hatte, beschloss ich, mit dem Haschischrau-chen aufzuhören. Aber als ich dann am nächsten Abend be-trunken durch die Wohnung torkelte, dachte ich mir, so ein dumpfer Alkoholrausch ist mit den klaren Gefühlen eines Haschischrausches überhaupt nicht vergleichbar. Ich lebte in einer kleinen Mietwohnung in der Kettenbrückengasse. Sie war im letzten Stock des Hinterhauses gelegen. Von der Küche aus hatte ich einen kleinen eiserenen Balkon. Er reichte gerade, um ein Tischchen und einen Sessel hinaus-zustellen. Wenn es warm war, saß ich dort am Abend und rauchte meinen Joint. Vor mir waren nur die Wipfel von zwei Kastanienbäumen und die Toilettenfenster des Vor-derhauses. Wenn im Fernseher ein Fußballmatch übertra-gen wurde, konnte ich an den Toilettenfenstern erkennen, wann die Pause war. Es störte mich nicht, dass keines mei-ner Fenster auf die Straße hinausging. Manchmal schaute ich mir die Fernsehnachrichten an. Es gab neue Kriege, es gab neue Länder und es gab überall Flüchtlinge, die von einem Land ins andere weitergeschoben wurden. Ich dach-te mir, wenn Wien besetzt wird und in den Straßen Panzer patrouillieren, ich würde es in meinem Hinterhaus nicht einmal bemerken. Ich verließ die Wohnung nur, um einzu-kaufen oder wenn mich jemand anrief, weil er ein Compu-terproblem hatte.
Als ich einmal einem Assistenten im In-stitut für Publizistik das neue PressWriter-Programm auf die Festplatte kopierte, sagte er zu mir, er kenne einen Schriftsteller, der habe ein kompliziertes Problem, ob er ihm meine Telefonnummer geben dürfe. Der Schriftsteller rief mich dann an. Er wollte ein Lexikon, in dem die Wör-ter alphabetisch nach den zweiten Buchstaben geordnet waren. Als ich sagte, ich hielte es durchaus für möglich, ein Lexikonprogramm in dieser Weise umzugestalten, bat er mich, ihm auch noch einen Ausdruck zu machen, in dem die Wörter nach den dritten Buchstaben geordnet seien. Er schriebe an einem Text, in dem die Aufeinanderfolge der zweiten und dritten Buchstaben einen Subtext bildeten, der für den gewöhnlichen Leser nicht erkennbar sein solle. Ich verstehe, sagte ich, wie ein CD-Bonus-Track mit einem Quick-Time-Video, das nur der Computer erkennt. Ich bin nicht sicher, ob er verstand, was ich meinte, aber er war nun überzeugt, dass ich ihm helfen konnte. Die eigentliche Arbeit war in eineinhalb Stunden erledigt. Ich nahm eines der üblichen Software-Wörterbücher und übertrug es in ein Excelprogramm, wobei ich jedem Buchstaben eine Spalte zuordnete. Danach musste ich das Ganze nur noch vom Computer Spalte für Spalte alphabetisch sortieren lassen. Am längsten benötigte der Ausdruck. Zwei Wochen später rief ich den Schriftsteller an und sagte, dass es mir nun end-lich gelungen sei, seinen Wünschen zu entsprechen. Es sei eine heidenarbeit gewesen. Wir verabredeten einen Über-gabetermin im Café Museum. Der Schriftsteller blätterte und blätterte und drückte dann die Blätter ans Herz, als würden sie ihm das Leben retten. Wie viel bekommen Sie?, fragte er.
Ich sagte, das Umsortieren eines Lexikons sei schon eine verdammt komplizierte Sache, und er sagte, kann ich mir vorstellen. Daraufhin sagte ich: Fünftausend Schilling, und der Schriftsteller sagte, das ist absolut in Ordnung, ich ha-be mich schon auf ganz andere Summen gefasst gemacht. Er gab mir fünftausend Schilling und fragte, ob er eine Rechnung haben könnte. Und da ich in seiner Geldbörse noch viel mehr Scheine sah, sagte ich, bei einer Rechnung kommt die Mehrwertsteuer dazu, und dann kostet es sechstausend Schilling. Der Schriftsteller gab mir einen weiteren Tausender und ich stellte auf dem umgedrehten Deckblatt seines neuen Lexikons meine erste Rechnung aus. Ich fuhr vom Café Museum zum Igel nach Ottakring. Der Igel war ein professioneller Amsterdam-Tourist. Er stank nach Schweiß, wie nie wieder ein Mensch nach Schweiß wird stinken können. Vielleicht war das der Grund, warum er sich als Dealer halten konnte. Es wollte ihm einfach keiner zu nahe kommen. Der Igel gab mir für die sechstausend Schilling eine schöne Platte, die aussah wie Bitterschokolade. Damit konnte ich mich ein paar Mo-nate in meinem Hinterhof vergraben.
Zum Abschied küsste ich Klara auf den Mund, aber ich blieb länger an ihren Lippen, als man es als Bruder tun soll-te, und da drückte sie mich weg und sagte, du bist ein dummer Kerl.
Da muss ich dir ausnahmsweise Recht geben, antworte-te ich und fuhr fort. Sie winkte mir nach. Zu Hause fand ich einen Brief vor, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ein weiterer Aufschub meines Zivildienstes nicht genehmigt werden könne, da der Nachweis eines entsprechenden Stu-dienerfolges von mir nicht erbracht worden sei. Ich wurde wunschgemäß dem Wiener Roten Kreuz als Hilfssanitäter zugeteilt und habe mich in zwei Wochen zum Einführungs-kurs in der Zentrale des Roten Kreuzes Am Hundsturm einzufinden. Die Adresse Am Hundsturm gefiel mir, weil sie einen guten Vorgeschmack auf das gab, was mich erwarten würde.
Einmal, es war noch in der ersten Woche meines Dienstes, kam das Fernsehen. Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, ausgerechnet mich beim Verladen eines Kranken zu filmen. Ich fragte, warum mich, und der Redakteur antwortete, weil jeder Ihren Vater kennt. Da das Fernsehen in die Ein-satzzentrale gekommen war, wo keine Kranken zur Verfü-gung standen, weil diese ja nicht bei uns, sondern in den Spitälern abgeliefert wurden, musste einer der Rettungs-fahrer seine Zivilkleidung anziehen, und wir verluden ihn auf der Breitenseer Straße in ein Sanitätsauto. Danach wollte mich der Redakteur interviewen. Er bezeichnete sich selbst als fortschrittlichen Menschen, der den Zuschauern von Österreich Heute die Vorurteile gegen den Zivildienst nehmen wolle. Die Zivildiener, sagte er, werden von vielen Menschen immer noch als Drückeberger bezeichnet. Ich will ihnen zeigen, dass ihr hart arbeitet und ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft seid. Er fragte mich, warum ich Zivildienst mache, und ich antwortete, weil mir das Bun-desheer auf die Nerven gehe.
Als wir in die Einsatzzentrale zurückkamen, sagte der Nachtdienst: Sie machen jetzt Schluss und melden sich um sieben Uhr in der Früh beim Einsatzleiter. Dann ließ er sich vom Fahrer im Detail berichten, was vorgefallen war. Da es schon vier Uhr morgens war, sah ich keinen Sinn darin, noch schlafen zu gehen. Ich durfte die Dienststelle nun oh-ne das Ausfüllen eines Scheins verlassen und ging in Brei-tensee spazieren. Es begann bald zu dämmern, aber es war noch ruhig in den Straßen. Bald hörte ich das Quietschen von Straßenbahnen, und es kamen die ersten Menschen aus den Häusern. Vor den Supermärkten wurden mit lau-tem Getöse Waren verladen. Ein Fleischhauer schleppte halbe Kälber über die Straße. Der Fahrer eines Lieferwa-gens warf bei einer Trafik zusammengeschnürte Stöße von Zeitungen vor die Tür. Manchmal blieb ich stehen und horchte nur auf die Geräusche. Sie waren laut und klar, je-des Aufeinandertreffen von Gegenständen war al eigener Laut wahrnehmbar, ganz anders als am Tag, wo alles in einem allgemeinen Gedröhn untergeht. Es waren Vogel-stimmen zu hören, und sie kamen von unterschiedlichen Vögeln, die sich angeregt darüber unterhielten, was aus diesem Tag, wenn sie ihn jetzt den Menschen übergaben, noch werden könnte. Die Autos hatten unterschiedliche Startgeräusche. Diejenigen, die sich noch Geltung ver-schaffen konnten, gaben sich dann alle Mühe, die anderen daran zu hindern, mir ebenfalls aufzufallen.
Ein paar Tage später kam Gerhard zu mir in die Woh-nung. Ich hatte die Power-Point-Animationen seiner Bilder fertig gestellt und wollte mit ihm die Geschwindigkeit der jeweiligen Abläufe besprechen. Es war Mitte Oktober. Die Nacht des blutigen Hundes, der Messer auf die Abbildun-gen meiner Schwester warf, lag sechs Wochen zurück. Gerhard und ich hatten seither nur einmal telefoniert. Ich hat-te getan, als hätte ich Mitleid mit ihm, wollte aber nur diskret herauskriegen, ob er mit Klaras Schuldirektor ge-sprochen hatte.
Als ich in meiner Rot-Kreuz-Uniform aus der U-Bahn-Station Kettenbrückengasse kam, stand Gerhard schon vor meiner Haustür und schlug, um sich aufzuwärmen, die Füße gegeneinander. Es hatte ein wenig zu schneien begonnen. Es waren ganz kleine Flocken, die der Wind über die Straßen wirbelte. Mit Klara hatte Gerhard keinen Kon-takt mehr gehabt. Weder einen weiteren Anruf noch den versprochenen Brief hatte er erhalten.
In meiner Wohnung war es kalt. Ich drehte das Backrohr auf und steckte eine alte Wärmelampe ein, die ich vor kur-zem auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Sie hatte einen großen Aluminiumschirm, der aussah wie eine Satelliten-schüssel. Gerhard half mir, im eiserenen Ofen einzuheizen. Er fragte mich, ob mir das alles hier nicht ein wenig zu um-ständlich sei.
Als ich mich hierauf im Wohnzimmer niederließ und die Knuspertüte in Brand steckte, war Alexandr mit seinem Thunfisch schon fertig. Er kam zu mir, leckte sich die Pfo-ten und ließ sich auf meinem Schoß nieder.
Alle diese Dinge, so erklärte ich ihm, werden bald aus dieser Wohnung verschwinden. Aber keine Angst, sagte ich, Katzenfutter wird bleiben. Es wird nur noch Katzen-futter und Haschisch geben, wir werden es vermischen und gemeinsam essen. Sonst werden wir uns nichts mehr leisten können. Ist morgen Samstag?
Alexandr schloss zustimmend die Augen. In der Früh, fuhr ich fort, werden wir zur Wienzeile hinuntergehen und auf dem Flohmarkt alles verkaufen, was wir entbehren können. Und das ist fast alles. Du hängst doch auch nicht an Dingen. Das Bett behalten wir, den Computer be-halten wir und die Katzenkiste. Noch etwas?
Alexandr schien auch nichts einzufallen, was wir sonst noch behalten sollten. Aber nach einer Weile hatte er einen Gedanken. Er stand auf, streckte die Vorderpfoten und bog den Rücken zu einem S. Das heißt in der Katzensprache: Alles herhören, ich habe gerade einen Gedanken. Dann ging Alexandr zur Lautsprecherbox und rieb sein Fell an der Kante.
Einverstanden, sagte ich. Ein paar CDs behalten wir auch. Sagen wir zehn, die zehn besten. Du hilfst mir aussuchen.
Ich hatte in diesem Augenblick, scharf wie unter einem Brennglas, das Desaster meiner gesamten Existenz vor mir. Da arbeite ich jahrelang an einer Sache, habe die Idee, ent-wickle sie weiter, verbringe Nacht für Nacht damit, bis ein zum Herzeigen reifes Produkt entsteht – aber dann sind meine Energien plötzlich dahin, ich drehe mir eine Knus-pertüte nach der anderen und lasse das Ergebnis meiner Mühen auf der Festplatte vergammeln. Vier Jahre später muss ich mir meine eigene Erfindung als fremdes Produkt im Fernsehen anschauen, gefeiert als großer Hit der tech-nischen Entwicklung. Irgendjemand, der vermutlich viel später dran war als ich, aber letztlich doch cleverer war, hat dafür mächtig Tantiemen kassiert und es wird offiziell für immer seine Erfindung bleiben. Mein Fußballmatch ohne Ball war 37 Minuten lang. Ich war nicht in der Lage ge-wesen, das Know-How oder wenigstens den Film zu ver-kaufen, weder in New York noch daheim in Wien. Das Ein-zige, was ich schaffte, war, dass der Film zwei Monate lang im Wiener Szene-Lokal FLEX auf einem Bildschirm lief. Dafür hatte ich 10 000 Schilling bekommen. Und wie viel hatte derjenige bekommen, der das Know-how oder das bearbeitete Material an RAI UNO verkaufte?
Der Gedanke gefällt mir, sagte sie und reihte sich in die Auffahrt zu einer Autobahn ein. Sie konzentrierte sich auf den dichten Verkehr, ich blickte sie von der Seite an. Ihre kurze Höckernase, ihre runden Lippen, die mit Make-up zugekleisterten Poren ihrer Haut. Wenn auch die Frisur nun eine ganz andere war, ich fand das alte Gesicht wie-der. Ihre nicht nur füllige, sondern auch nach außen ge-schwungene Unterlippe, die von der Seite so wirkte, als wäre ihr Mund ein wenig geöffnet, wie oft hatte ich dieses Bild, dieses Gesicht vor mir gehabt. Und doch hatte ich nicht daran geglaubt, Mimi, meine erste wirkliche Liebe, je wiederzusehen. Sie war mir entglitten, ohne dass etwas Besonderes vorgefallen war. Brigitte, das war mir schnell klar geworden, hatte es nicht so gerne, wenn ich in die Mondscheingasse kam. Sie wollte Mimis Kontakt zu mir auf äußerliche Dinge beschränkt sehen. Sie hatte nichts da-gegen, wenn ich den Handwerker spielte oder den Com-puter auf Vordermann brachte, aber sie stellte merkwür-dige Fragen, wenn ich einmal grundlos vorbeigekommen war. Ob Mimi ihr von unserem Zusammensein erzählt hatte? Vielleicht hatte Brigitte es sogar mitgekriegt, hatte zugehört. Der Gedanke, dass Brigitte davon wissen könn-te, war mir unangenehm. Wenn ich in die Mondschein-gasse kam, war dieser Gedanke jedoch immer anwesend. Es war wie das sinnlos gewordene Schweigen über ein längst verratenes Geheimnis, das sich aber in diesem Schweigen noch eine letzte Lebenskraft, eine letzte Erin-nerung bewahren kann. Da Mimi nichts unternahm, um mit mir ein neues Geheimnis entstehen zu lassen, fühlte ich mich auf eine undramatische Weise in der Mondscheingasse auf die Straße gesetzt. Es gab nichts mehr zu repa-rieren, keine Leitungen zu stemmen, keine Lampen zu montieren, keine Zimmer auszumalen, keine Wasserhähne zu entkalken – und so blieb ich fern und wartete vergeb-lich auf einen Anruf, der erst vierzehn Jahre später kam, als ich nicht mehr wartete.
Ich nickte. Mein Gott, dachte ich, wenn ich das gewusst hätte. Ich wäre nach New York geflogen und Mimi zur Seite gestanden.
Und Brigitte?, fragte ich. Ist sie dir nicht beigestanden?
Ich war doch zu dieser Zeit von Brigitte längst getrennt. Sie arbeitete beim Kurier, ich beim Rundfunk. Sie wohnte weiter in der Mondscheingasse, ich wohnte nun in der Werdertorgasse, im ersten Bezirk. Wir sahen uns nur noch ganz selten.
Warum bist du ausgezogen?
Sie war ständig eifersüchtig. Ich fühlte mich bewacht, als wäre sie mein Aufpasser. Erwähnte ich den Namen eines Kollegen beim ORF, Rüdiger Wischenbart zum Beispiel, hatte sie sofort den Verdacht, da könnte sich etwas anbah-nen, und sie wollte alles über ihn wissen. Erwähnte ich den Namen eines anderen Kollegen, Wolfgang Kos oder Alfred Treiber, begann dasselbe Spiel von vorne. Sie wollte alle kennen lernen, sie wollte alles wissen, sie lebte in der stän-digen Angst, mich an Männer zu verlieren. Das macht man eine Zeit lang mit, aber nicht ewig. Und so zog ich aus. Eigentlich zog ich dreimal aus. Erst beim dritten Mal ge-lang es mir, weil ich entschlossen genug war, es heimlich zu tun. Davor hatte sie mich zweimal zurückgehalten, mir buchstäblich vor der Nase die Tür versperrt. Ich hätte mit ihr um den Schlüssel raufen müssen. Direkte Auseinander-setzungen mit Brigitte endeten immer damit, dass ich am Ende glaubte, sie wisse besser als ich selbst, was für mich gut sei. Als ich schließlich allein in der Werdertorgasse leb-te, vermisste ich Brigitte. Plötzlich war niemand mehr da, der mir sagte, was richtig ist. Im Privatleben, meine ich. Umso mehr stürzte ich mich in Arbeit. Ich war den ganzen Tag im Studio und den Abend im Theater. Ich tat alles, da-mit für das Privatleben kein Raum mehr blieb. Hast du eigentlich mit Brigitte je wieder Kontakt gehabt?
Sie hat mir Lenin gebracht.
Wann war das?
Bevor sie nach Bukarest ging.
Das ist ja höchst interessant. Ich hatte nämlich, als wir einmal gemeinsam verreisten, vorgeschlagen, dir Lenin an-zuvertrauen. Aber damals hat Brigitte gemeint, du habest kein Herz für Katzen, und Lenin würde bei dir nur leiden.
Ich bin in Wien, sage ich. Aber jetzt muss ich Schluss ma-chen. Ich rufe dich wieder an.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkomme, sehe ich, dass die meisten Gäste das Haus schon verlassen haben. Anas-tasia schiebt den Rollstuhl meines Großvaters. Sie trägt nun einen langen Umhang, der fast bis zum Boden reicht. In ihrem rechten Arm hat sich die Großmutter eingehängt. Vor der Tür wartet ein Kleinbus mit einer herabgelassenen Plattform für Rollstuhlfahrer. Die Verwandten und Freun-de meiner Mutter stehen auf der einen Seite der Plattform, Tante Rosi, Eli und die Verwandten von Anastasia auf der anderen. Lediglich Laura hat sich zu meiner Schwester ge-stellt, so als hätte sie die Seiten gewechselt. Zuerst wird mein Wiener Großvater verladen, dann steigen alle anderen ein. Meine Mutter und die Therapiegaby setzen sich nach vorne. Meine Mutter hat Lucia auf dem Schoß. Der Bus ist zu klein für uns alle. Aber zum Ottakringer Fried-hof sind es nur zehn Minuten.
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