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Das Vaterspiel - pp 228
Irgendwann begann sie von einem Gerhard zu sprechen, und da sie nun auch wieder Gitarre spielte, ging ich ein-fach davon aus, dass es sich um ihren ehemaligen Freund handeln müsse. Dessen Gruppe, die Geilen Säcke, gab es noch. Sie waren in letzter Zeit mit ihren Heavy-Metal-Nummern sogar so erfolgreich gewesen, dass sie eingelad-den waren, am Ersten Mai in der Arena, einem ehemaligen Schlachthofgelände, eine Serie von Freiluftkonzerten zu eröffnen.
Der Erste Mai war in unserer Familie ein notorisches Streitthema. Als Kind hatten mir die Aufmärsche noch Spaß gemacht. Da war ich mit dem Fahrrad, in dessen Spei-chen mein Vater am Vorabend rotes Krepppapier gespannt hatte, bei der Bezirksgruppe der Meidlinger Sozialisten mitgefahren. Die Erwachsenen gingen zu Fuß in der Mitte der Straße, und wir Kinder fuhren mit rot geschmück-ten Fahrrädern den Demonstrationszug entlang bis nach vorne zu den Fahnenträgern, dann in die Gegenrichtung, vorbei an den Straßenbahnern und Eisenbahnern mit ihren jeweiligen Musikkapellen bis zurück zu den Freiheits-kämpfern und zum Bund Sozialistischer Akademiker, die im Meidlinger Aufmarschplan gewöhnlich das Schlusslicht bildeten. Dann drehten wir erneut um und strampelten von den leisen Akademikern wieder nach vorne zu den lauten Eisenbahnern. Wenn wir schließlich beim Burgtheater von der Ringstraße auf den Rathausplatz einbogen, begann ich auf dem hohen Tranparenten geschmückten Podium meinen Vater zu suchen. Er stand dort, vor der Kulisse des neugotischen Wiener Rathauses, inmitten der sozialisti-schen Prominenz und winkte uns zu.
Der Erste Mai war in unserer Familie ein notorisches Streitthema. Als Kind hatten mir die Aufmärsche noch Spaß gemacht. Da war ich mit dem Fahrrad, in dessen Spei-chen mein Vater am Vorabend rotes Krepppapier gespannt hatte, bei der Bezirksgruppe der Meidlinger Sozialisten mitgefahren. Die Erwachsenen gingen zu Fuß in der Mitte der Straße, und wir Kinder fuhren mit rot geschmück-ten Fahrrädern den Demonstrationszug entlang bis nach vorne zu den Fahnenträgern, dann in die Gegenrichtung, vorbei an den Straßenbahnern und Eisenbahnern mit ihren jeweiligen Musikkapellen bis zurück zu den Freiheits-kämpfern und zum Bund Sozialistischer Akademiker, die im Meidlinger Aufmarschplan gewöhnlich das Schlusslicht bildeten. Dann drehten wir erneut um und strampelten von den leisen Akademikern wieder nach vorne zu den lauten Eisenbahnern. Wenn wir schließlich beim Burgtheater von der Ringstraße auf den Rathausplatz einbogen, begann ich auf dem hohen Tranparenten geschmückten Podium meinen Vater zu suchen. Er stand dort, vor der Kulisse des neugotischen Wiener Rathauses, inmitten der sozialisti-schen Prominenz und winkte uns zu.
Near fragment in time
Danach begab ich mich wie nach einem Millionencoup zum Fernsehzentrum. Ich fuhr mit der U-Bahn nach Hietzing, schlenderte am Schönbrunner Schlosspark entlang und stellte fest, wie gleichmäßig meine Gedanken liefen. Ich konnte mit ihnen Schritt halten. Es war ein beinahe ungewohntes Bewusstsein, perfekt zu funktionieren, zu wissen, wohin, und was zu tun war, mir sicher zu sein. Kein Gedanke an Vater. Kein Gedanke an Istanbul.
pp 83 from Herzlos by
Near fragment in space
Eine Strategie! Ja, dachte Breuer auf dem Heimweg im Fiaker, es wurde höchste Zeit, dass auch er sich eine Strategie überlegte. So sehr war er damit beschäftigt gewesen, Nietzsche in die Falle zu locken, dass er bislang keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie er den Fang zähmen sollte, der nun auf Zimmer 13 der Lauzon-Klinik festsaß. Während der Fiaker schwankte und holperte, wandte sich Breuer also strategischen Überlegungen zu. Ein schöner Schlamassel; Anhaltspunkte gab es keine, geschweige denn Schulfälle. Er müsste eine vollkommen neue Behandlungsmethode erfinden. Am besten, er besprach die ganze Sache mit Freud; der begrüßte jede solche Herausforderung. Breuer bat Fischmann, am Spital anzuhalten und Doktor Freud ausfindig zu machen.
Das Wiener Allgemeine Krankenhaus, in dem Freud als Aspirant klinische Erfahrung für die spätere eigene Praxis sammelte, glich einer Stadt in der Stadt: In einem Dutzend Gebäudekarrees mit jeweils geschlossenem Hof, von welchen jedes eine eigene Abteilung beherbergte und welche alle durch ein Labyrinth unterirdischer Gänge miteinander in Verbindung standen, waren zweitausend Patienten untergebracht. Eine vier Meter hohe Mauer riegelte die Außenwelt ab.
Fischmann, mit den verschlungenen Wegen bestens vertraut, eilte von dannen, um Freud von seiner Abteilung zu holen. Minuten später schon kehrte er allein zurück. »Doktor Freud ist nicht im Hause. Doktor Hauser sagte mir, er wäre vor einer Stunde in sein Stammlokal gegangen.«
Das von Freud frequentierte Kaffeehaus, das Café Landtmann am Franzensring, lag nur wenige Straßenzüge entfernt, und dort traf Breuer seinen Freund auch an. Er saß allein vor einem Braunen und studierte ein französisches Literaturjournal. Im Café Landtmann verkehrten vorwiegend Ärzte, klinische Aspiranten und Medizinstudenten. Obschon weniger exklusiv als Breuers Stammcafé Griensteidl, abonnierte das Landtmann über achtzig Zeitungen und Zeitschriften, mehr vielleicht als jedes andere Wiener Kaffeehaus.
»Sigmund, lassen Sie uns auf eine Leckerei zu Demel gehen. Ich habe Neuigkeiten über den Migräne-Professor.«
Im Nu war Freud aufbruchsbereit. Er schwärmte leidenschaftlich für die illustre Wiener Hofzuckerbäckerei, konnte sich einen Besuch jedoch nur dann leisten, wenn er eingeladen wurde. Zehn Minuten darauf saßen sie an einem ruhigen Ecktisch. Breuer bestellte zwei Braune, ein Stück Schokoladenkuchen für sich selbst und für Freud Zitronencremetorte mit Schlag, welche dieser so gierig verschlang, dass Breuer seinen jungen Freund drängte, sich vom silbernen Kuchenwagen ein zweites Stück auszuwählen. [...] »Aber ja!« Breuer war begeistert. »Eine bedeutsame Einsicht!« Er ließ ein paar Kupferkreuzer auf dem Tisch liegen, und dann schlenderten er und Freud hinaus auf den Michaelerplatz. »Wenn mein Patient diesen anderen Teil in sein Ich aufnehmen könnte, wäre viel gewonnen. Wenn er einzusehen vermöchte, wie natürlich es ist, Trost von seinen Mitmenschen zu erhoffen, das genügte schon!«
Sie gingen den Kohlmarkt hinab und trennten sich dann im Gedränge am Graben. Freud schlug den Weg durch die Naglergasse zum Krankenhaus ein, Breuer schlenderte über den Stephansplatz Richtung Bäckerstraße. Die Nummer 7 lag schräg hinter den hochaufragenden romanischen Türmen des Westwerkes des Stephansdoms.
pp 217-226 from Und Nietzsche weinte by
Das Wiener Allgemeine Krankenhaus, in dem Freud als Aspirant klinische Erfahrung für die spätere eigene Praxis sammelte, glich einer Stadt in der Stadt: In einem Dutzend Gebäudekarrees mit jeweils geschlossenem Hof, von welchen jedes eine eigene Abteilung beherbergte und welche alle durch ein Labyrinth unterirdischer Gänge miteinander in Verbindung standen, waren zweitausend Patienten untergebracht. Eine vier Meter hohe Mauer riegelte die Außenwelt ab.
Fischmann, mit den verschlungenen Wegen bestens vertraut, eilte von dannen, um Freud von seiner Abteilung zu holen. Minuten später schon kehrte er allein zurück. »Doktor Freud ist nicht im Hause. Doktor Hauser sagte mir, er wäre vor einer Stunde in sein Stammlokal gegangen.«
Das von Freud frequentierte Kaffeehaus, das Café Landtmann am Franzensring, lag nur wenige Straßenzüge entfernt, und dort traf Breuer seinen Freund auch an. Er saß allein vor einem Braunen und studierte ein französisches Literaturjournal. Im Café Landtmann verkehrten vorwiegend Ärzte, klinische Aspiranten und Medizinstudenten. Obschon weniger exklusiv als Breuers Stammcafé Griensteidl, abonnierte das Landtmann über achtzig Zeitungen und Zeitschriften, mehr vielleicht als jedes andere Wiener Kaffeehaus.
»Sigmund, lassen Sie uns auf eine Leckerei zu Demel gehen. Ich habe Neuigkeiten über den Migräne-Professor.«
Im Nu war Freud aufbruchsbereit. Er schwärmte leidenschaftlich für die illustre Wiener Hofzuckerbäckerei, konnte sich einen Besuch jedoch nur dann leisten, wenn er eingeladen wurde. Zehn Minuten darauf saßen sie an einem ruhigen Ecktisch. Breuer bestellte zwei Braune, ein Stück Schokoladenkuchen für sich selbst und für Freud Zitronencremetorte mit Schlag, welche dieser so gierig verschlang, dass Breuer seinen jungen Freund drängte, sich vom silbernen Kuchenwagen ein zweites Stück auszuwählen. [...] »Aber ja!« Breuer war begeistert. »Eine bedeutsame Einsicht!« Er ließ ein paar Kupferkreuzer auf dem Tisch liegen, und dann schlenderten er und Freud hinaus auf den Michaelerplatz. »Wenn mein Patient diesen anderen Teil in sein Ich aufnehmen könnte, wäre viel gewonnen. Wenn er einzusehen vermöchte, wie natürlich es ist, Trost von seinen Mitmenschen zu erhoffen, das genügte schon!«
Sie gingen den Kohlmarkt hinab und trennten sich dann im Gedränge am Graben. Freud schlug den Weg durch die Naglergasse zum Krankenhaus ein, Breuer schlenderte über den Stephansplatz Richtung Bäckerstraße. Die Nummer 7 lag schräg hinter den hochaufragenden romanischen Türmen des Westwerkes des Stephansdoms.