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Chucks - pp 31-32

Bei diesem Job hat jedes Gesicht eine Nummer, das ist das Schöne daran, so bleiben die möglichen Schicksale namenlos. In den ersten Tage hatte ich noch einen Karteikasten in meinem Kopf, in den ich jedes dieser Gesichter einordnete: Nutte, Freier, Fixer, dummes Kind. Bei manchen war ich ratlos. Damit habe ich inzwischen aufgehört, genauso wie ich aufgehört habe, mich jedes Mal, wenn ich aus der U-Bahn-Station komme, zu wundern, wie selbstbewusst man das große Hinweisschild mit dem Schriftzug ‚Aids-Hilfe‘ an das sonst so unscheinbare Eckhaus gehängt hat und wie ebenso selbstbewusst die Leute durch die Tür gehen, durch die ich anfangs bloß mit gebeugtem Nacken gehen konnte, und auch nur dann, wenn ich sonst niemanden auf der Straße sah.
In jeder Pause sitze ich auf den Treppenstufen vom ersten in den zweiten Stock, sieben nach oben, gerade so weit um die Biegung, dass mich niemand sieht, der im ersten die Tür öffnet. Hier herauf kommen nur die Angestellten und die Mitglieder der Selbsthilfegruppen. Einmal habe ich ein Mädchen beobachtet, das unten vor der Tür zur Anmeldung stand, dreimal die Treppe wieder runterstieg, um dann doch hineinzugehen.
"Formular her", keife ich nach der Mittagspause wieder, reiße den Zettel über den für mich zu großen Schreibtisch hinweg an mich und beginne in meinen Computer zu hacken. Ich stelle alle Fragen auf einmal, so wie ich es laut Anweisung auf keinen Fall tun darf. Mein Gegenüber weiß nicht, wie ihm geschieht.
"Nehmen Sie das nächste Mal einen Gummi, Sie Kleinspurmacho, verdammt noch mal! Draußen hinsetzen! Schämen!" Der Mann vor mir duckt sich. Ich beachte kurz interessiert seine Halbglatze. "Schämen!", schreie ich ihm noch mal nach, als er durch die Tür in das Wartezimmer geht. Einer der Wartenden hebt kurz den Kopf und fixiert mich, ich starre auf ein Lichtquadrat am Boden, bis die Tür wieder zufällt. Ich will sie alle nicht mehr sehen.
In jeder Pause sitze ich auf den Treppenstufen vom ersten in den zweiten Stock, sieben nach oben, gerade so weit um die Biegung, dass mich niemand sieht, der im ersten die Tür öffnet. Hier herauf kommen nur die Angestellten und die Mitglieder der Selbsthilfegruppen. Einmal habe ich ein Mädchen beobachtet, das unten vor der Tür zur Anmeldung stand, dreimal die Treppe wieder runterstieg, um dann doch hineinzugehen.
"Formular her", keife ich nach der Mittagspause wieder, reiße den Zettel über den für mich zu großen Schreibtisch hinweg an mich und beginne in meinen Computer zu hacken. Ich stelle alle Fragen auf einmal, so wie ich es laut Anweisung auf keinen Fall tun darf. Mein Gegenüber weiß nicht, wie ihm geschieht.
"Nehmen Sie das nächste Mal einen Gummi, Sie Kleinspurmacho, verdammt noch mal! Draußen hinsetzen! Schämen!" Der Mann vor mir duckt sich. Ich beachte kurz interessiert seine Halbglatze. "Schämen!", schreie ich ihm noch mal nach, als er durch die Tür in das Wartezimmer geht. Einer der Wartenden hebt kurz den Kopf und fixiert mich, ich starre auf ein Lichtquadrat am Boden, bis die Tür wieder zufällt. Ich will sie alle nicht mehr sehen.
Near fragment in time

Als sie bei der Himmelpfortgasse angelangt waren, ertönte ein ohrenbetäubendes Poltern und Krachen. Lautes Wiehern, brüllende Stimmen, verzweifelte Schreie, zwischendrin leises Wimmern. Die Pferde einer Droschke waren durchgegangen. Das filigrane offene Gefährt war mit dem Waggon einer Pferdetramway zusammengeprallt und umgekippt. Die Geschirre der Pferde hatten sich ineinander verheddert. Zwei Pferde waren gestürzt. Die Insassen der Droschke lagen auf der Straße. Ein kleiner Junge war unter die Hufe eines Gauls geraten. Er blutete am Kopf. Die Frau, die sich kreischend über den Jungen beugte, war ebenfalls blutüberströmt. Das andere Kind, ein Mädchen von etwar vier Jahren, lag regungslos unter dem linken Hinterrad der Droschke.
Gustav wollte den Kindern zu Hilfe eilen. Mararete von Leiden presste sich jedoch eng an ihn, verbarg ihr Gesicht an seiner Brust und flüsterte unter Tränen: "Bitte bleiben Sie bei mir."
pp 24-25 from Der Tod fährt Riesenrad by
Gustav wollte den Kindern zu Hilfe eilen. Mararete von Leiden presste sich jedoch eng an ihn, verbarg ihr Gesicht an seiner Brust und flüsterte unter Tränen: "Bitte bleiben Sie bei mir."
Near fragment in space

Es wird gleich dunkel, wo bleibt sie nur? Ich hab von diesem Lehrer keine Telefonnummer, ich weiß ja nicht einmal den Namen.
Gerhard heißt er, sagte ich.
Du kennst ihn?
Ja, ich habe ihn am Samstag im U4 gesehen.
In der Disco? Wieso, ist der noch so jung?
Ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein Jahr jünger. Im U4 ist er mit seiner Band aufgetreten.
Mit seiner Band. Warum sagt mir das keiner? Wie heißt die Band?
Die Geilen Säcke.
Wie? Das darf doch nicht wahr sein. Was weißt du noch über ihn?
Er sieht vielleicht etwas ungewöhnlich aus, aber er ist ganz nett.
Was heißt ungewöhnlich aussehen? Hat er lange Haare?
Nein, eher wenige Haare. Ein Teil fehlt, der andere Teil steht ihm dafür zu Berge.
Was erzählst du da?
Er hat einen Irokesenschnitt. Und viel Leder und Eisen. Wie Punks halt aussehen.
Ich weiß nicht, wie Punks aussehen, ich kenne keine Punks. Bring mich sofort hin.
Ich kann es dir beschreiben, aber ich bringe dich nicht hin. Meine Schwester ist kein Kind mehr.
Kein Kind? Natürlich ist sie ein Kind. Was soll sie sonst sein mit sechzehn Jahren. Sag mir, wo das ist.
Und so beschrieb ich meiner Mutter das Haus am Sechshauser Gürtel und erklärte ihr, wo sich der Kellereingang befand. Die Geilen Säcke waren nicht nur eine Band, sondern auch eine Wohngemeinschaft. Sie hatten im Nachbarhaus einen Keller gemietet und ihn zum Proberaum ausgebaut. In dem großen, von der Straßenseite her begehbaren Raum hatte davor ein alter Tischler gearbeitet. Er war in Pension gegangen und hatte die meisten Maschinen verkauft. Den Großteil des Werkzeugs und die restlichen Holzvorräte hatte er seinen Nachmietern überlassen, die daraus in den Keller einen zweiten, schallisolierten Raum hineinbauten. Als ich Klara die ersten Male vom Sechshauser Gürtel abholte, waren sie damit noch nicht fertig. Ich sah mir die Konstruktion genau an. Der innere Raum war mit Dämmmaterial gegen Schall isoliert. Seine Wände hielten zu den Mauern und zur Decke des Kellers etwa 20 Zentimeter Abstand, ohne sie je zu berühren, sodass keine Schwingungen auf das Gebäude übertragen werden konnten. Der Proberaum war so gut isoliert, dass man auf die Straße hinaus nicht einmal das Schlagzeug hören konnte. Siebzehn Jahre später sollte ich diesen Raum in den USA nachbauen
pp 158-159 from Das Vaterspiel by
Gerhard heißt er, sagte ich.
Du kennst ihn?
Ja, ich habe ihn am Samstag im U4 gesehen.
In der Disco? Wieso, ist der noch so jung?
Ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein Jahr jünger. Im U4 ist er mit seiner Band aufgetreten.
Mit seiner Band. Warum sagt mir das keiner? Wie heißt die Band?
Die Geilen Säcke.
Wie? Das darf doch nicht wahr sein. Was weißt du noch über ihn?
Er sieht vielleicht etwas ungewöhnlich aus, aber er ist ganz nett.
Was heißt ungewöhnlich aussehen? Hat er lange Haare?
Nein, eher wenige Haare. Ein Teil fehlt, der andere Teil steht ihm dafür zu Berge.
Was erzählst du da?
Er hat einen Irokesenschnitt. Und viel Leder und Eisen. Wie Punks halt aussehen.
Ich weiß nicht, wie Punks aussehen, ich kenne keine Punks. Bring mich sofort hin.
Ich kann es dir beschreiben, aber ich bringe dich nicht hin. Meine Schwester ist kein Kind mehr.
Kein Kind? Natürlich ist sie ein Kind. Was soll sie sonst sein mit sechzehn Jahren. Sag mir, wo das ist.
Und so beschrieb ich meiner Mutter das Haus am Sechshauser Gürtel und erklärte ihr, wo sich der Kellereingang befand. Die Geilen Säcke waren nicht nur eine Band, sondern auch eine Wohngemeinschaft. Sie hatten im Nachbarhaus einen Keller gemietet und ihn zum Proberaum ausgebaut. In dem großen, von der Straßenseite her begehbaren Raum hatte davor ein alter Tischler gearbeitet. Er war in Pension gegangen und hatte die meisten Maschinen verkauft. Den Großteil des Werkzeugs und die restlichen Holzvorräte hatte er seinen Nachmietern überlassen, die daraus in den Keller einen zweiten, schallisolierten Raum hineinbauten. Als ich Klara die ersten Male vom Sechshauser Gürtel abholte, waren sie damit noch nicht fertig. Ich sah mir die Konstruktion genau an. Der innere Raum war mit Dämmmaterial gegen Schall isoliert. Seine Wände hielten zu den Mauern und zur Decke des Kellers etwa 20 Zentimeter Abstand, ohne sie je zu berühren, sodass keine Schwingungen auf das Gebäude übertragen werden konnten. Der Proberaum war so gut isoliert, dass man auf die Straße hinaus nicht einmal das Schlagzeug hören konnte. Siebzehn Jahre später sollte ich diesen Raum in den USA nachbauen