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Zores

9783902672827
January 2012
January 2012
QuoteAlso das mochte diese theologischen Klugschwätzer im Diesseits echt überraschen. Die andere Welt sah verdammt nach der Walfischgasse aus. Nikotingetränkte Gardinen, altdeutsche Essmöbel und ein grauenhaftes Persianerimitat gleich zu seinen Füßen. Gott hatte ja nicht allzu viel Zeit gehabt, die Welt zu erschaffen, aber beim Paradies hätte er sich denn doch ein wenig mehr Mühe geben können. Wo blieben die Engel bloß? Das war ja interessant. Im Jenseits herrschte keine himmlische Ruhe. Offenbar gab es auch hier Automobile, denn das Quäken, das an sein Ohr drang, war unzweifelhaft eine Hupe. Der ein unmissverständliches „Drah di, Depperter!“ folgte. Wie schön. Im Paradiese sprach man Wienerisch! Oder war das Paradies vielmehr Wien? Der verstaubte Teppich, die Vorhänge, die Sessel, … das war viel zu vertraut, um nicht seine Wohnung zu sein. Mühsam hob er die Hand und führte sie zu seinem Gesicht. Er fühlte seine fleischige Wange, fuhr sich sachte über seine Barthaare. Kein Zweifel. Er spürte sich. Er lebte also.

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Quote„Er ist tot aufgefunden worden in seiner Privatwohnung in der Skodagasse, was passend ist, weil Skoda ja Schaden heißt.“

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Quote„Und im letzten Stock?“ „Da wohnen links die Lehner und rechts die Stadler. Der Stadler hat die Friedhofsgärtnerei am Matzleinsdorfer Friedhof, da bei der Triesterstraße draußen. Ist auch ein strammer Nazi.

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QuoteDie beiden verabschiedeten sich andeutungsweise von der Winter und gingen dann die Treppe abwärts zum Haustor. Wieder im Freien wandten sie sich nach links, um auf diese Weise wenig später die Alserstraße zu erreichen. Vorbei am Landesgericht hielten sie auf die Universität zu, vor der sich ein Menschenknäuel gebildet hatte. Cerny und Bronstein brauchten nicht viel Phantasie, um zu ahnen, was der Grund für diesen Auflauf war. Schon von weitem erkannten sie die riesigen Fahnen mit der schwarz-weiß-roten Drittelung. Bronstein ärgerte sich. Die Nazis waren leider nicht blöd. Die offizielle Flagge des Reichs, die rote mit dem Hakenkreuz, war natürlich verboten, doch die alte Kaiserfahne, die seit 1935 nicht mehr als offizielles Symbol Deutschlands galt, war rechtlich unangreifbar, obwohl jeder wusste, was damit signalisiert werden sollte. Immerhin hatte die nationale Rechte dieses Banner auch all die Jahre mitgeführt, da offiziell Schwarz-Rot-Gold den nördlichen Nachbarn symbolisierte, und Bronstein erinnerte sich daran, wie die Nazis diese Kombination als „Schwarz-Rot-Mostrich“ verunglimpft hatten. Doch was Weimarer Tuch war mittlerweile ebenso Geschichte wie die Republik, für welche es gestanden war. Und wer vermochte zu sagen, wann es auch mit Rot-Weiß-Rot vorbei sein würde.

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QuoteEr hatte sich eben erhoben, als das Telefon läutete. Er ließ sich wieder auf den Sessel plumpsen und hob den Hörer aus der Gabel. Vorschriftsmäßig meldete er sich. „Schwester Aurelia hier. Vom Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in der Stumpergasse. Sagt Ihnen, Herr Oberst, der Name Pokorny etwas?“ Bronstein fuhr auf: „Der Pokorny! Ja sicher! Was ist leicht mit ihm?“

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Quote„Alsdern. Am besten, sie fangen mit die Oberhollenzer an. Die wohnen in dem Abbruchhaus in der Lederergassen. Dann ist da noch der Kranewetter in der Kochgasse, und drüben in der Spitalgassen die Wagnerischen. Und als besonderes Zuckerl schauen S´ Ihnen die Witzmann am Bennoplatz an. Des is a ganz besondere Mischpoche.“

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QuoteBronstein erwiderte dieses auf dieselbe Weise und wandte sich dann nach Westen in Richtung Gürtel. Als erstes, so dachte er, steuerte er den Bennoplatz an, wobei er sich freilich nicht eingestand, die Witzmanns vor allem wegen der behaupteten Profession der Mutter als erste Familie gewählt zu haben. Am Platz angekommen, fand er ohne Mühe sofort das richtige Haus. Davor spielten einige Kinder Tempelhüpfen. Sie waren überaus schäbig gekleidet und hatten für die Jahreszeit viel zu dünnes Gewand an. Wenigstens, so dachte Bronstein, wurde ihnen bei dieser Bewegung nicht kalt. Er blieb vor der Gruppe stehen und sah ihr eine Weile zu.

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QuoteVom Bennoplatz waren es keine fünf Minuten in die Kochgasse. Bronstein wunderte sich. Dieses Grätzl zählte ohne Frage zu den besseren Wohngegenden Wiens. Wie kam es, dass dort auch arme Schlucker wohnten? Die Antwort gab ihm die Adresse, die ihm die Jedlicka genannt hatte. In dem vornehmen Wohnhaus aus der Jahrhundertwende gab es einen Innenhof, wo sich eine heruntergekommene Werkstatt befand. Vermutlich waren hier einmal Kutschen und später Automobile repariert worden, nun freilich zeugte nichts mehr von der einstigen Geschäftigkeit. Ein unrasierter, müde und ungepflegt wirkender Mann in Flanellhose und weißem Unterhemd saß auf einer leeren Kiste und rauchte eine Zigarette.

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Quote"Was arbeiten Sie überhaupt, wenn ich fragen darf?" "Schuster bin i ..., war i." "Aha, und wenn der Hitler kommt, dann braucht ma in Wien auf einmal vielmehr Schuh´- oder wie?" "Na, des ned. Aber die jüdische Konkurrenz tät´s dann nimmer geben. Und so müssten die Leut´ wieder bei mir arbeiten lassen und ned bei dem windigen Flickschuster in der Feldgasse. ... Und den seine Wohnung kriegert ich wahrscheinlich auch. Also wär´ alles wieder gut."

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QuoteWährend er die Kochgasse hinunter zur Alserstraße schlenderte, strich er Kranewetter geistig von der Liste der Verdächtigen. Der Mann war so dermaßen simpel gestrickt, dass es ihm unmöglich war, sich so geschickt zu verstellen. Nein, es war offenkundig, dass Kranewetter rein gar nichts verstanden hatte, und genau deshalb kam er als Täter nicht in Frage. Andernfalls nämlich hätte Kranewetter Suchy in einem Tobsuchtsanfall erschlagen, um sich eine Minute später selbst zu stellen. Doch der Mann war so inbrünstig von der jungfräulichen Empfängnis des Nationalsozialismus überzeugt, dass er niemals einem Nazi auch nur das geringste Fehlverhalten zutrauen würde. Ohne es wirklich zu merken, hatte Bronstein die Alserstraße überquert und sah sich plötzlich an der Ecke zur Spitalgasse stehen. Nun, dann konnte er die Wagner auch gleich aufsuchen, dachte er sich. Er betrat nach wenigen Metern das ihm genannte Haus, das fraglos schon bessere Zeiten gesehen hatte, und suchte am schwarzen Brett nach dem gewünschten Namen. Na bitte, Souterrain. Er begab sich zur Treppe und in der Folge halb unter die Erde. Auf halbem Wege in den Keller gab es eine einzige Tür. Hier mussten, so schloss Bronstein, die Wagners wohnen. Er klopfte.

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QuoteEr betrat auf der Alserstraße direkt neben der Beethovenkirche ein Stehkaffee und bestellte sich eine Schale Gold, ehe er sich, während er auf das Heißgetränk wartete, eine Zigarette anzündete. Am Nebentisch unterhielten sich flüsternd zwei Arbeiter. An Bronsteins Ohr drangen nur einzelne Gesprächsfetzen. "... der Hitler lasst uns ned hängen. Der kommt, wirst sehen!" "... aber die Volksabstimmung ..." "Wirst sehen, die is´ wurscht. Zur Not gibt´s halt an Putsch. Ein erfolgreichen diesmal. Und dann sand´s weg, die ganzen Ostler. Wien wird judenrein, das sag´ ich Dir." Der zweite Arbeiter, der eben noch skeptisch und bedrückt gewirkt hatte, richtete sich auf. Um eine Nuance lauter sagte er: "Ma, des warat sche. Endlich weg mit de Gfraster. Juden, Zigeiner, Monarchisten, Sozialisten, Kommunisten, Christen, Hahnenschwanzler, ... olle weg! Waun I kenntat, wia I wolltat, I schoffat des ollas o. Heit no." Bronstein fühlte eine tiefgreifende Übelkeit in sich aufsteigen. In großen Schlucken trank er seinen Kaffee aus und flüchtete sodann eilends aus dem Lokal. Er passierte das Landesgericht, überquerte die Zweierlinie und hielt auf die Universität zu. Dort hielten die politischen Manifestationen an, und in Bronstein machte sich allmählich Panik breit. Immer schneller ging er, bis er am Ring schon fast ins Laufen kam. Beinahe ohne auf den Verkehr zu achten, wechselte er die Straßenseite und befand sich endlich vor dem Präsidium.

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QuoteBronstein überquerte die Ringstraße, hielt auf die Schottengasse zu und bog von dort in die Herrengasse ein. Vor dem Café „Herrenhof“ blieb er stehen. Für das Abendessen war es, befand er, noch zu früh, also sprach nichts dagegen, sich noch einen Kaffee zu genehmigen. Er trat ein und setzte sich an seinen gewohnten Tisch. Der Kellner trat an ihn heran. „Das Übliche, Herr Oberst?“ „Nein, Herr Franz, bringen S´ mir heute einen Pharisäer. Ich weiß auch nicht warum, aber mir ist g´rad´ danach.“ „Ein Pharisäer, bitte schön, kommt sofort.“ Und der Kellner ging ab. Bronstein wartete einen Augenblick, dann erhob er sich noch einmal und schlenderte zum Tisch mit den Zeitungen. Die Auswahl war, wie er befand, mehr als mager. Neben den drei zentralen Tageszeitungen, der „Reichspost“, der „Neuen Freien Presse“ und der „Wiener Zeitung“, gab es nur die „Illustrierte Wochenpost“, das „Tagblatt“ und das „Sport-Tagblatt“. Mit einer sentimentalen Wehmut erinnerte er sich daran, dass genau dieser Tisch einst unter einem schier unzählbaren Wust an Zeitungen jeden Tag beinahe zusammenzubrechen schien. Der „Pester Lloyd“, das „Prager Tagblatt“, das „Karpaten-Echo“, die „Rundschau“, die „Brünner Zeitung“, …, wo waren die alle hingekommen? Und erst die Blätter aus dem Ausland! Im „Herrenhof“ hatte man natürlich auch die führenden Presseerzeugnisse aus England, Deutschland, Frankreich und der Schweiz jeden Tag auf´s Neue ausliegen gehabt. Und jetzt gab es nicht einmal mehr die altehrwürdige „Times“. Nicht, dass Bronstein des Englischen mächtig gewesen wäre, aber allein schon die Präsenz solcher Presserzeugnisse verlieh dem Ort und damit auch seinem Besucher einen Flair von Weltläufigkeit. Solange die Welt im eigenen Heim zu Gast war, zählte man etwas auf dem Erdenrund. Nun aber war man nur noch miefige Provinz! Seufzend griff Bronstein zum „Sport-Tagblatt“, denn von Politik hatte er an diesem Abend mehr als genug. Er kam gerade rechtzeitig zu seinem Tisch zurück, als der Kellner den Kaffee abstellte. Bronstein signalisierte durch ein kurzes Nicken einen Dank, setzte sich dann und entnahm seinem Etui eine „Donau“, die er anzündete, ehe er den ersten Schluck aus seiner Tasse nahm.

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QuoteAm Michaelerplatz rotteten sich zwei Gruppen zusammen. Die rechts stehende Menge war unschwer als Parteigänger Hitlers zu erkennen. Ein Haufen junger Männer mit Kniebundhosen, weißen Stutzen und genagelten Haferlschuhen. Ihnen gegenüber, direkt beim Einfahrtstor zum Heldenplatz standen ein paar ältere Semester in abgetragenen Mänteln, deren Kragen sie hochgeschlagen hatten. Bronstein vermutete in ihnen Vertreter der illegalen Arbeiterbewegung. Beide Gruppen feixten sich schweigend an, während in der Mitte des Platzes einige uniformierte Polizisten herumgingen, die sichtlich nicht wussten, wie sie auf die Situation reagieren sollten. Bronstein beschleunigte seinen Schritt und sah zu, dass er unerkannt über den Platz kam.

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QuoteIn der Augustinerstraße kam ihm ein Streifenwagen entgegen, bald darauf ein weiterer. Offenbar hatten die Kollegen Verstärkung angefordert. Bronstein hielt auf die Albertina zu, nahm aber dann spontan davon Abstand, sich in den Augustinerkeller zu begeben. Stattdessen beschloss er, sich beim „Smutny“ ein herzhaftes Fiakergulasch zu gönnen. Gemeinsam mit zwei Seideln Bier würde das seine Nerven wieder einigermaßen ins Lot bringen, dachte er. Eine halbe Stunde später konnte er mit großer Vorfreude seine „Donau“ ausdämpfen, denn vor ihm dampfte nun die bestellte Speise. Aus dem dickflüssigen rotbraunen Saft erhoben sich würfelförmige Fleischstücke, neben denen ein Ehrfurcht gebietend großer Semmelknödel seinen Platz gefunden hatte. In der Mitte glänzte ein Spiegelei, das von zwei kleinen Frankfurtern flankiert wurde, während am Tellerrand ein aufgefächertes Gewürzgurkerl für einen farblichen Kontrast sorgte. Dazu hatte der Kellner noch einen Brotkorb dazugestellt, aus dem eine goldbraun gebackene und leicht mit Mehl angestaubte Semmel förmlich danach schrie, von Bronstein verzehrt zu werden. Er tat einen langen kräftigen Schluck von seinem Ottakringer und griff dann mit der linken Hand zur Semmel, während seine rechte die Gabel aufnahm.

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QuoteIn der Augustinerstraße kam ihm ein Streifenwagen entgegen, bald darauf ein weiterer. Offenbar hatten die Kollegen Verstärkung angefordert. Bronstein hielt auf die Albertina zu, nahm aber dann spontan davon Abstand, sich in den Augustinerkeller zu begeben. Stattdessen beschloss er, sich beim „Smutny“ ein herzhaftes Fiakergulasch zu gönnen. Gemeinsam mit zwei Seideln Bier würde das seine Nerven wieder einigermaßen ins Lot bringen, dachte er. Eine halbe Stunde später konnte er mit großer Vorfreude seine „Donau“ ausdämpfen, denn vor ihm dampfte nun die bestellte Speise. Aus dem dickflüssigen rotbraunen Saft erhoben sich würfelförmige Fleischstücke, neben denen ein Ehrfurcht gebietend großer Semmelknödel seinen Platz gefunden hatte. In der Mitte glänzte ein Spiegelei, das von zwei kleinen Frankfurtern flankiert wurde, während am Tellerrand ein aufgefächertes Gewürzgurkerl für einen farblichen Kontrast sorgte. Dazu hatte der Kellner noch einen Brotkorb dazugestellt, aus dem eine goldbraun gebackene und leicht mit Mehl angestaubte Semmel förmlich danach schrie, von Bronstein verzehrt zu werden. Er tat einen langen kräftigen Schluck von seinem Ottakringer und griff dann mit der linken Hand zur Semmel, während seine rechte die Gabel aufnahm.

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Quote„Haben S´ ein Kinoprogramm da?“, erkundigte er sich beim Kellner. Dieser nickte kurz und reichte ihm wenig später die „Reichspost“ vom Tage. Bronstein fand die gesuchte Seite, und sein erster Blick fiel auf das Margaretner Bürgerkino, in dessen unmittelbarer Nähe er ein gutes Jahrzehnt gewohnt hatte. „Oberleutnant Franzl“ wurde dort gegeben, eine volkstümliche Posse mit der süßen Lucie Englisch und der eher hantigen Magda Schneider. Nein, von Uniformen hatte er genug! Außerdem war ihm dieses Lichtspiel ohnehin zu weit entfernt. Wenn, dann wollte er sich in unmittelbarer Nähe von bewegten Bildern berieseln lassen. Seine Augen wanderten die Seite aufwärts zum Programm in den Innenstadtkinos. Am Schottenring wurde immer noch „La Habanera“ gegeben. Eine Südseeschnulze mit vielen Palmen und seichten Melodien. Bronstein hatte den Film vor zwei Monaten gesehen, und damals war der Kontrast zu dem matschig-trüben Wetter in der Wienerstadt wohltuend gewesen. Doch ein zweites Mal verlangte es ihn nicht nach diesem Streifen, auch wenn die Kritik sich ungebrochen vor Begeisterung über die Leistung der Hauptdarstellerin Zarah Leander überschlug. Blieb das Opern-Kino, keine hundert Meter vom „Smutny“ entfernt. Dort lief „Hoheit flirtet“, eine Produktion aus dem amerikanischen Hollywood.

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QuoteWozu in die Ferne schweifen, dachte er sich, gab es doch in seiner Gasse gleich zwei Häuser weiter ein Etablissement, in dem ein Ablenkung suchender Herr im gestandenen Mannesalter auf seine Kosten kommen sollte. Der Zubau zum Haus Nummer 11 war schon 1884 errichtet worden und hieß eine gute Weile „Moulin Rouge“, ehe man sich in der Republik von der kosmopolitischen Weitläufigkeit verabschiedet und den eher provinziellen Namen „Zur schiefen Laterne“ erwählt hatte. Lange Zeit konnte man die „Laterne“ getrost vergessen, denn viel mehr als eine fade Nummernrevue wurde dem Publikum dort nicht geboten. Zuletzt allerdings, so hatte Bronstein gehört, war es mit dem Haus wieder deutlich bergauf gegangen, wofür nicht nur witziges Kabarett verantwortlich war, sondern auch die engagierten Damen, die der Bezeichnung „Lustspieltheater“ eine eigene Note gaben.

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QuoteWozu in die Ferne schweifen, dachte er sich, gab es doch in seiner Gasse gleich zwei Häuser weiter ein Etablissement, in dem ein Ablenkung suchender Herr im gestandenen Mannesalter auf seine Kosten kommen sollte. Der Zubau zum Haus Nummer 11 war schon 1884 errichtet worden und hieß eine gute Weile „Moulin Rouge“, ehe man sich in der Republik von der kosmopolitischen Weitläufigkeit verabschiedet und den eher provinziellen Namen „Zur schiefen Laterne“ erwählt hatte. Lange Zeit konnte man die „Laterne“ getrost vergessen, denn viel mehr als eine fade Nummernrevue wurde dem Publikum dort nicht geboten. Zuletzt allerdings, so hatte Bronstein gehört, war es mit dem Haus wieder deutlich bergauf gegangen, wofür nicht nur witziges Kabarett verantwortlich war, sondern auch die engagierten Damen, die der Bezeichnung „Lustspieltheater“ eine eigene Note gaben.

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QuoteEr legte die kurze Strecke bis zum Michaelerplatz zurück, ehe er durch das Burgtor zum Heldenplatz gelangte. An dessen Ende überquerte er den Ring und ging dann an den Museen, dem Epstein und dem Parlament vorbei, um schließlich in die Stadiongasse einzubiegen. Deren Verlauf folgte er auch noch jenseits der Zweierlinie, wo sie freilich bereits Josefstädterstraße hieß. Nach etwa zehn Minuten erreichte er die Lerchengasse, gleich danach die Tigergasse, um endlich in der Albertgasse zu stehen. Er wandte sich nach links und ging einige Häuser in Richtung Lerchenfelderstraße entlang, um so sein Ziel endgültig zu erreichen. Er betrat den wuchtigen Bau aus der Jahrhundertwende und begab sich ins erste Stockwerk, wo ein unscheinbares kleines Messingschild darauf hinwies, dass hier das Oberhaupt der österreichischen Nazis seine Kanzlei betrieb.

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QuoteZehn Minuten später passierte er das verwaiste Parlamentsgebäude und umrundete den Volksgarten, von wo aus er bereits das Bundeskanzleramt sehen konnte. Er hatte mit Mannschaften gerechnet, die vor dem Gebäude kampierten. Mit Wachposten sonder Zahl, mit Zeitungsleuten, Adabeis und allerlei Volk, doch überraschender Weise sah das politische Zentrum Österreichs aus wie an einem heißen Sommertag zur Mittagszeit.

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