Der Stadtrat
Es mußte ungefährt drei Wochen vor der Explosion, vor dem Geschäftsessen gewesen sein, als Lichtenegger am Schwedenplatz mitten in den Flug einer Taube hineinprallte. Der Rumpf des schmutzigen Tiers schien an seiner Wange zu zerschellen.
Er erinnerte sich mit Unbehagen an die quallige hässliche Frauenperson, die in ihren schmuddeligen Röcken den Graben auf und ab schritt, mit einer krankhaften, einer „geisteskranken“ Würde und die in einem fort rief: „Dann werden diese Drecksmenschen kenie Macht mehr über mich haben. Dann werden diese Drecksmenschen keine Macht mehr über mich haben."
Es war an der U- Bahnhaltestelle Schottenring, gegen halb zehn Uhr abends – keine Zeit für irgendetwas: Leute, die irgendwohin wollten, waren schon dort, und Leute, die da waren, waren vielleicht schon irgendwo gewesen, wo es sich zu bleiben nicht gelohnt hatte. Inmitten dieser allgemeinen, von allen geteilten Aussichtslosigkeit brach es aus einem Mann hervor. Er schleuderte einer kleinen Frau (seiner kleinen Frau?), deren ganzer, im Mantel zusammengehaltener Körper etwas Abduckendes annahm, die Worte entgegen: „ES SIND DIE IRRITATIONEN IN DEINEM GEHIRN, DIE DIESEN GANZEN WAHNSINN AUSMACHEN.
Dieser Mann, der junge Analphabet, dessen Schicksal dem Stadtrat in einem Akt vorlag, ein Hilfsarbeiter, in seiner Arbeit auf einfachste Verrichtungen beschränkt, trieb den größten denkbaren geistigen Aufwand, um vorzutäuschen, lesen und schreiben zu können. Hätte er diese seine Kraft, die mehr oder weniger lesende und schreibende Umgebung zu täuschen, dafür aufgewandt, lesen und schreiben zu lernen, dann hätte er gewiß sehr schnell in – Lichteneggers ZEITUNG zum Beispiel – die entscheidenden Artikel geschrieben. In der ganzen Stadt, nein, im Ganzen Land, hätte man sich über seinen scharf formulierten Thesen den Kopf zerbrochen und das Maul zerrissen; er wäre die heißen Themen immer kühl angegangen, wäre streitbar gewesen, polemisch, hätte kein heißes Eisen unberührt und sich kein Denkverbot auferlegen lassen. Man hätte ihn hören können, wie er im Hörsaal I des Neuen Institutsgebäudes für die Studenten des Instituts der Zeitungswissenschaften las, und wie er nach dem Ende seiner Vorlesung einer jungen, heftig studierenden Damen persönlich/ privat ins interessierte Ohr sagte: „Hören Sie, in jedem guten Schreiber steckt ein Analphabet …“
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