Und Nietzsche weinte
Vier Wochen danach saß Breuer am Schreibtisch seines Ordinationszimmers in der Bäckerstraße Nummer sieben. Es war vier Uhr nachmittags, und er erwartete mit Ungeduld die Ankunft Lou Salomés.
Schließlich waren sieben Patienten – drei von ihnen ernstlich krank – besucht, und Breuers Tagwerk war getan. Fischmann lenkte die Droschke Richtung Café Griensteidl. Dort pflegte Breuer in einem Kreise von Arzt- und Forscherkollegen, welcher sich seit fünfzehn Jahren an seinem Stammtische, einem großen, eigens reservierten Ecktisch an bevorzugter Stelle, zusammenfand, einen Kaffee zu nehmen.
Der Fiaker erreichte den Achten Bezirk, Josefstadt genannt, und hielt vor den Toren der Lauzon-Klinik. Der Pförtner, welcher Fischmann gleich erkannte, versagte es sich diskret, einen neugierigen Blick ins Innere des Wagens zu werfen, und beeilte sich, die großen, schmiedeeisernen Torflügel zurückzuschieben. Dann schwankte und holperte der Fiaker über die hundert Meter kopfsteingepflasterter Auffahrt zum Portikus des Hauptgebäudes mit seinen weißen Säulen. Die Lauzon-Klinik, ein stattlicher, vierstöckiger weißer Bau, bot vierzig neurologischen und psychiatrischen Patienten Platz. Dreihundert Jahre zuvor als Stadtpalais des Baron Friedrich Lauzon errichtet, hatte das von einer umlaufenden Mauer umfriedete, zwanzig Morgen Parkland und Obstgärten samt Ställen, Remise und Gesindehäuser umfassende Anwesen noch vor den Toren Wiens gelegen. Hier waren Generation um Generation junger Lauzons gezeugt, großgezogen und zur Wildschweinjagd hinausgeschickt worden. Nach dem Tode des letzten Baron Lauzon bei der Typhusepedemie von 1858 war der Besitz an Baron Wertheim gefallen, einen entfernten, verarmten Kusin, der nur selten seinen Landsitz in Bayern verließ.
Da die Nachlaßverwalter dem Baron bald deutlich gemacht hatten, wie er sich nur dadurch der Last dieses Erbes entledigen könne, indem er es einem wohltätigen Zweck zuführte, hatte Baron Wertheim beschieden, das Haus solle als Hospiz Rekonvaleszenten dienen, und zur einzigen Bedingung gemacht, dass seiner Familie allezeit unentgeltliche Behandlung eingeräumt werden müsse. Eine Stiftung wurde ins Leben gerufen und ein Beirat bestimmt – letzterer ungewöhnlich insofern, als ihm nicht nur mehrere der ersten katholischen Familien Wiens angehörten, sondern auch zwei philantropische jüdische Familien, die Gomperz’ und die Altmanns. Obschon die 1860 eröffnete Klinik vor allem wohlsituierte Patienten aufnahm, wurden sechs der vierzig Betten von der Stiftung unterhalten und mittellosen, aber ordentlichen Patienten zur Verfügung gestellt.
Und eines dieser sechs Betten hatte Breuer, welcher im Beirat die Altmann-Familie vertrat, für Nietzsche requiriert. Breuers Einfluss in der Lauzon-Klinik ging weit über Sitz und Stimme im Beirat hinaus; er war Hausarzt des Spitalleiters und einiger anderer Verwaltungsmitglieder.
Als Breuer und sein neuer Patient eintrafen, wurden sie mit großer Zuvorkommenheit empfangen; man verzichtete auf alle förmlichen Aufnahme- und Anmeldeprozeduren, und der Direktor und die leitende Krankenwärterin führten Arzt und Patient persönlich die unbelegten Zimmer vor.
Eine Strategie! Ja, dachte Breuer auf dem Heimweg im Fiaker, es wurde höchste Zeit, dass auch er sich eine Strategie überlegte. So sehr war er damit beschäftigt gewesen, Nietzsche in die Falle zu locken, dass er bislang keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie er den Fang zähmen sollte, der nun auf Zimmer 13 der Lauzon-Klinik festsaß. Während der Fiaker schwankte und holperte, wandte sich Breuer also strategischen Überlegungen zu. Ein schöner Schlamassel; Anhaltspunkte gab es keine, geschweige denn Schulfälle. Er müsste eine vollkommen neue Behandlungsmethode erfinden. Am besten, er besprach die ganze Sache mit Freud; der begrüßte jede solche Herausforderung. Breuer bat Fischmann, am Spital anzuhalten und Doktor Freud ausfindig zu machen.
Das Wiener Allgemeine Krankenhaus, in dem Freud als Aspirant klinische Erfahrung für die spätere eigene Praxis sammelte, glich einer Stadt in der Stadt: In einem Dutzend Gebäudekarrees mit jeweils geschlossenem Hof, von welchen jedes eine eigene Abteilung beherbergte und welche alle durch ein Labyrinth unterirdischer Gänge miteinander in Verbindung standen, waren zweitausend Patienten untergebracht. Eine vier Meter hohe Mauer riegelte die Außenwelt ab.
Fischmann, mit den verschlungenen Wegen bestens vertraut, eilte von dannen, um Freud von seiner Abteilung zu holen. Minuten später schon kehrte er allein zurück. »Doktor Freud ist nicht im Hause. Doktor Hauser sagte mir, er wäre vor einer Stunde in sein Stammlokal gegangen.«
Das von Freud frequentierte Kaffeehaus, das Café Landtmann am Franzensring, lag nur wenige Straßenzüge entfernt, und dort traf Breuer seinen Freund auch an. Er saß allein vor einem Braunen und studierte ein französisches Literaturjournal. Im Café Landtmann verkehrten vorwiegend Ärzte, klinische Aspiranten und Medizinstudenten. Obschon weniger exklusiv als Breuers Stammcafé Griensteidl, abonnierte das Landtmann über achtzig Zeitungen und Zeitschriften, mehr vielleicht als jedes andere Wiener Kaffeehaus.
»Sigmund, lassen Sie uns auf eine Leckerei zu Demel gehen. Ich habe Neuigkeiten über den Migräne-Professor.«
Im Nu war Freud aufbruchsbereit. Er schwärmte leidenschaftlich für die illustre Wiener Hofzuckerbäckerei, konnte sich einen Besuch jedoch nur dann leisten, wenn er eingeladen wurde. Zehn Minuten darauf saßen sie an einem ruhigen Ecktisch. Breuer bestellte zwei Braune, ein Stück Schokoladenkuchen für sich selbst und für Freud Zitronencremetorte mit Schlag, welche dieser so gierig verschlang, dass Breuer seinen jungen Freund drängte, sich vom silbernen Kuchenwagen ein zweites Stück auszuwählen. [...] »Aber ja!« Breuer war begeistert. »Eine bedeutsame Einsicht!« Er ließ ein paar Kupferkreuzer auf dem Tisch liegen, und dann schlenderten er und Freud hinaus auf den Michaelerplatz. »Wenn mein Patient diesen anderen Teil in sein Ich aufnehmen könnte, wäre viel gewonnen. Wenn er einzusehen vermöchte, wie natürlich es ist, Trost von seinen Mitmenschen zu erhoffen, das genügte schon!«
Sie gingen den Kohlmarkt hinab und trennten sich dann im Gedränge am Graben. Freud schlug den Weg durch die Naglergasse zum Krankenhaus ein, Breuer schlenderte über den Stephansplatz Richtung Bäckerstraße. Die Nummer 7 lag schräg hinter den hochaufragenden romanischen Türmen des Westwerkes des Stephansdoms.
Der Fiaker trug sie auf der Ringstraße durch den südlichen Teil der Stadt, überquerte via Schwarzenbergbrücke den Wienfluß, passierte das Belvedere und erreichte über den Rennweg und die Simmeringer Hauptstraße bald schon den Zentralfriedhof. In den dritten großen Torweg zum jüdischen Teil des Friedhofs einbiegend, lenkte Fischmann, welcher Breuer seit einem Jahrzehnt regelmäßig zum Grab seiner Eltern kutschierte, den Fiaker unbeirrt durch ein Labyrinth von Alleen und Wegen, einige davon kaum breit genug für die Droschke, und hielt schließlich am Mausoleum der Rothschilds. Als Breuer und Nietzsche ausgestiegen waren, holte Fischmann ein großes Blumengebinde unter dem Kutschbock hervor und reichte es Breuer hinunter. Die beiden Männer schritten schweigend einen ungepflasterten Weg zwischen Reihen von Grabmalen hinab.
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