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Bis zur Neige - Ein Fall für Berlin und Wien - pp 467-468
»Mensch, schau doch mal! Die Oper! Und das Sacher! Gehst du da mal mit mir frühstücken?« »Ja, mach ich. Komm, wir haben jetzt keine Zeit für Sightseeing.« Anna zog ihn durch die bummelnde, Eis essende Touristenmasse, und rasch erreichten sie die Polizeiabsperrung der Tatortgruppe. Sie drängten sich durch die Schaulustigen, schlüpften durch das rotweiß gestreifte Band, und da fiel ihr Blick auch schon auf die in eine Aludecke gehüllte, leblose Gestalt, die im Eingangsbereich einer Bank lag. Daneben Hromada mit bleichem Gesicht und Andreas Müller, der ganz geschäftig mit ein paar Kollegen sprach und Anna keines Blickes würdigte. Wortlos reichte Hromada ihr ein DIN-A4-Blatt in einer Klarsichthülle. Anna hielt das Papier so, dass Thomas Bernhardt mitlesen konnte. Meine Name ist Gerhard König. Ich war dabei und lege Zeugnis ab. Wir waren leichtfertig, wir haben gespielt. Wir waren verblendet. Wir haben uns selbst erhöht und zu Richtern gemacht. Wir gaben vor, der Menschlichkeit zu dienen, und haben dafür Menschen getötet. Was kann uns retten, was kann uns von unserer Schuld befreien? Es muss Gerechtigkeit hergestellt werden. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brand um Brand, Wunde um Wunde, Beule um Beule. Das ist der einzig wahre Täter-Opfer-Ausgleich. Ich war dabei. Und jetzt bin ich die Nemesis. Ich strafe euch, ich strafe mich. Ich beende den Schrecken mit dem Schrecken. Ich habe Schuld auf mich geladen und lade noch einmal Schuld auf mich. Aber dann beginnt das Zeitalter der Unschuld, und ich bin sein Prophet. Ich habe das Blut der Opfer mit dem Blut der Täter gerächt. Ich bin der Schlimmste und der Beste. Und jetzt vergieße ich mein Blut… Anna las nicht weiter, sie ließ den Zettel sinken, bückte sich und hob die Aludecke, mit der man den Toten bedeckt hatte, ein wenig an. Die blutige Masse hatte wenig mit einem Gesicht zu tun, und Anna zuckte unwillkürlich zurück. Andreas Müller war von hinten an sie herangetreten und hielt eine durchsichtige Plastiktüte mit einer Pistole vor Annas Gesicht.
Near fragment in time
Er sah die Bilder von sich als Maturant, in Anzug und Masche und Brille und vor dem Bauch gefalteten Händen, deren eine einen schwarzglänzenden Zylinder hielt, von sich als Studienanfänger in der verwirrend großen Stadt Wien, die Universität für Bodenkultur beim schönen Türkenschanzpark, wo es echte Wildenten gab, von den Bars und Kaffeehäusern, die ihm schneller als etwas sonst Zuhause wurden, von Lorenz, dem Unfall mit dem gestohlenen Auto, von Lorenz bildschöner Schwester, deren Name ihm seit einiger Zeit immer wieder halb entfiel, mit der er so lange eine Affaire gehabt hatte, ohne sie doch je zurückzulieben.
pp from Roter Flieder by
Near fragment in space
Und bei dem Kaffee flüstert die gnädige Frau dem jungen Wiener ins Ohr: „I bin diesen Abend allein im Kärntnertor, kommen S’ hin!“ und der junge Wiener lispelt ein freudiges „I küß die Hand!“ und du triffst ihn doch um sieben Uhr in der großen Oper, obgleich er ’s verschworen hatte, den „Freischütz“ wieder zu hören.
pp 60 from Bilder und Träume aus Wien by