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Das Vaterspiel - pp 60-61

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Zu Silvester 1963 war mein Vater das erste Mal im Haus seiner künftigen Schwiegereltern in Scheibbs. Es sollte für Jahre das letzte Mal sein. Mein Vater war immer noch Vorsitzender des Verbands Sozialistischer Studenten und gehörte als solcher auch dem Parteivorstand an. Meine Mutter hatte gerade ein Trimester in der Hauptschule am Henriettenplatz unterrichtet. Obwohl in Wien damals noch ein Mangel an Hauptschullehrern herrschte, waren Monate vergangen, bis sie die Stelle bekommen hatte. Die Beamten im Stadtschulrat sagten zu ihr, sie solle in Niederösterreich unterrichten. Dort gehöre sie hin und dort könne sie sicher auch sofort anfangen. Meine Mutter verstand nicht gleich, dass mit der Formulierung, dort gehöre sie hin, das vermutete Parteibuch ihres Vaters gemeint war. Sie hätte sich, als sie dann endlich verstand, worum es ging, darauf berufen zu können, dass sie mit einem Vorstandsmitglied der Sozialistischen Partei liiert sei, aber das wollte sie nicht. Sie wollte nicht ihrem Freund, sondern dem eigenen Können die Stelle verdanken. Meine Mutter blieb hartnäckig; so lange, bis ein Beamter genug davon hatte, bei meiner offenbar begriffsstutzigen Mutter immer noch um den heißen Brei herumreden zu müssen. Er sagte: Ich gebe Ihnen einen Rat. Treten Sie der SPÖ bei. Das tut nicht weh, das kostet nicht viel und Sie haben Ihren Posten.
  Das Vaterspiel
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  61
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  Henriettenplatz

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Diese vielen ekelhaften Menschen, Menschen, nun, diese vielen ekelhaften Erscheinungen im damit vollgestopften Autobus 74 A, die Landstraßer Hauptstraße hinauf oder hinunter, welche Qual, ihnen mehrmals täglich ausgesetzt zu sein, ihnen und ihren mitgeführten, mit sich getragenen Schicksalen, Lebensgestaltungen, Alltagsbewältigungen, Kinderwagen, Krücken; Inländer, Ausländer, Wiener, Asiaten, gleichviel, nein, gleichviel nicht, die Wiener, die 'Hiesigen', sind allemal scheußlicher, Paare vor allem, alte und ältere, verstunkene Wiener Ehepaare, wie sie hereinzittern 'in den Autobus', wie sie hinauszittern 'aus dem Autobus', dem Autobus 74 A, fürsorglich um einander bemüht und eben deshalb einander abrundtief gram, wie ich sie hasse!
pp 51 from Kalte Herberge by Werner Kofler

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Bei diesem Job hat jedes Gesicht eine Nummer, das ist das Schöne daran, so bleiben die möglichen Schicksale namenlos. In den ersten Tage hatte ich noch einen Karteikasten in meinem Kopf, in den ich jedes dieser Gesichter einordnete: Nutte, Freier, Fixer, dummes Kind. Bei manchen war ich ratlos. Damit habe ich inzwischen aufgehört, genauso wie ich aufgehört habe, mich jedes Mal, wenn ich aus der U-Bahn-Station komme, zu wundern, wie selbstbewusst man das große Hinweisschild mit dem Schriftzug ‚Aids-Hilfe‘ an das sonst so unscheinbare Eckhaus gehängt hat und wie ebenso selbstbewusst die Leute durch die Tür gehen, durch die ich anfangs bloß mit gebeugtem Nacken gehen konnte, und auch nur dann, wenn ich sonst niemanden auf der Straße sah.
In jeder Pause sitze ich auf den Treppenstufen vom ersten in den zweiten Stock, sieben nach oben, gerade so weit um die Biegung, dass mich niemand sieht, der im ersten die Tür öffnet. Hier herauf kommen nur die Angestellten und die Mitglieder der Selbsthilfegruppen. Einmal habe ich ein Mädchen beobachtet, das unten vor der Tür zur Anmeldung stand, dreimal die Treppe wieder runterstieg, um dann doch hineinzugehen.
"Formular her", keife ich nach der Mittagspause wieder, reiße den Zettel über den für mich zu großen Schreibtisch hinweg an mich und beginne in meinen Computer zu hacken. Ich stelle alle Fragen auf einmal, so wie ich es laut Anweisung auf keinen Fall tun darf. Mein Gegenüber weiß nicht, wie ihm geschieht.
"Nehmen Sie das nächste Mal einen Gummi, Sie Kleinspurmacho, verdammt noch mal! Draußen hinsetzen! Schämen!" Der Mann vor mir duckt sich. Ich beachte kurz interessiert seine Halbglatze. "Schämen!", schreie ich ihm noch mal nach, als er durch die Tür in das Wartezimmer geht. Einer der Wartenden hebt kurz den Kopf und fixiert mich, ich starre auf ein Lichtquadrat am Boden, bis die Tür wieder zufällt. Ich will sie alle nicht mehr sehen.
pp 31-32 from Chucks by Cornelia Travnicek