Der Fall des Lemming
Der Afrikaner zittert am ganzen Leib. Seine Haut hat nun doch einen leichten Grauton angenommen. Es gelingt ihm, den Wagen zu wenden und, wie in Trance, die dicht verparkte Berggasse hinabzufahren. Steil geht’s es jetzt hinunter in den Kessel des neunten Bezirks, in die Rossau, wo sich der Smog sein Nest gebaut hat, wo die Luft immer ein wenig schlechter ist als sonst in Wien und wo sich dennoch ein Straßencafé ans nächste reiht. Hier lebte und heilte Sigmund Freud, hier steht, monströs und finster, die Liesl, das Polizeigefangenenhaus mit dem angeschlossenen Hauptkommissariat, hier wohnt schließlich auch der Lemming, keine hundert Meter von den Büros der Mordkommission entfernt und keine fünfzig vom Stammlokal der Krimineser, dem Augenschein.
Und dann dieser Spitzname. Auch eine Erfindung Krotznigs. Der Lemming heißt ja gar nicht Lemming, er heißt Wallisch, Leopold Wallisch. Bei einem Einsatz hinter dem Westbahnhof ist es gewesen, da hat er sich, ohne die Waffe zu ziehen, dem Wagen eines Flüchtigen in den Weg gestellt. Ein junger Eifersuchtsmörder, nervlich am Ende, kurz davor, sich zu ergeben. Er wäre auf die Bremse gestiegen, ganz sicher hätte er gebremst. Krotznig war es, der gefeuert hat. Ein sauberer Schläfenschuss, aus dreißig Metern durch die Autoscheibe. Und am nächsten Tag hat Kollege Adolf Krotznig den Kollegen Leopold Wallisch vor versammelter Mannschaft «woamer Lemming» genannt. Der Lemming haftet ihm seither an, nur der Lemming, glücklicherweise.
Kriminalgruppeninspektor Leopold W., 38, wurde nach einem Trinkgelage gegen 1.30 Uhr völlig unbekleidet vor der Servitenkirche im 9. Wiener Gemeindebezirk aufgegriffen. Schlafende Anrainer waren von W. obszön beschimpft und lautstark zum gemeinsamen Selbstmord aufgefordert worden.
Vor einem halben Jahr im Herbst ist dem Lemming unten auf der Wienzeile ein Missgeschick passiert. Er spazierte den Naschmarkt entlang und wollte sich eben einen extrascharfen Döner zu Gemüte führen, da wurde er von hinten angerempelt und stieß an einen der Verkaufstische, auf denen die Waren feilgeboten wurden. Eine ganzer Haufen Kürbisse ist damals auf den Boden gepoltert und zerplatzt, Kürbisse für die nahende Geisternacht, die auch in Wien längst Halloween genannt wird.
Entsetzliche Bluttat im Wienerwald –Polizei steht vor einem Rätsel. Kurz vor Redaktionsschluss der «Reinen» erreichte uns folgende Meldung: Gestern, Mittwoch, wurde der 61-jährige Doktor Friedrich G. unweit der Aussichtswarte am Kahlenberg tot aufgefunden. Der wehrlose Rentner dürfte am helllichten Tag zum Opfer eines brutalen Gewaltverbrechens geworden sein. Die Polizei ermittelt gegen Unbekannt.
Das Schebesta-Gymnasium im neunzehnten Wiener Gemeindebezirk gibt noch immer als eine der Nobelschulen Wiens. Vor einem halben Jahrhundert von ihrem ersten Direktor, dem legendären Hofrat Schebesta, gegründet, wurde sie bis zum Ende der siebziger Jahre von den Söhnen der oberen Zehntausend besucht. Dann verwarf man in den letzten öffentlichen Lehranstalten die Idee der Geschlechtertrennung, und es wurden erstmals auch Mädchen aufgenommen. Inmitten eines großen Parks mit Hecken, Bäumen und ausgedehnten Sportanlagen liegt das flach gestreckte Gebäude, ein Hort humanistischer Bildung, optisch geprägt von der Sachlichkeit nüchterner Nachkriegsarchitektur.
Den Nachmittag hat der Lemming mit der Suche nach den ehemaligen Schülern des Iden-Clubs verbracht. Er ist zunächst auf das Postamt in der nahe gelegenen Porzellangasse gegangen, um dort Telefonbücher zu durchforsten. Nur drei der Namen hat er darin gefunden, aber einen dafür gleich mehrmals. Alleine in Wien wohnen fünf Männer, die Franz Sedlak heißen. Noch ein Glück, so hat der Lemming gedacht, dass ihm ein Meier oder ein Huber erspart geblieben ist. Außer den Sedlaks waren noch Peter Pribil und Walter Steinhauser angeführt, beide im Wiener Telefonverzeichnis. Der Lemming hat sich die Nummern und Adressen notiert und ist dann mit Tramway und U-Bahn zum Zentralmeldeamt im fünfzehnten Bezirk gepilgert. Für jeweils dreißig Schilling Bearbeitungsgebühr kann man hier Personen ausfindig machen, sofern sie ihren ordentlichen Wohnsitz in Wien haben uns sofern man sich eine Woche gedulden will, um auf positive Erledigung seines Antrags zu warten.
Ein leises Schnurren der Schaltkreise, begleitet vom gedämpften Klang platzenden Popcorns in einem Eisenkessel, und auf dem Monitor leuchtet das erste Ergebnis auf. Es ist die Internetseite des renommierten Hotel Kaiser am Schottenring. Hundert Jahre Kaiser, verrät die goldene Jugendstilschrift auf dem Bildschirm und ein Jahrhundert gehobene Gastlichkeit im gediegenen Ambiente der Belle Époque. Weiter unten kann man nachlesen, dass sich das Hotel seit seinem Gründungsjahr 1898 im Besitz der Familie Söhnlein befindet, deren bislang jüngster Sohn Albert 1988 die Leitung des Hauses übernommen hat. Der Lemming vermerkt es mit Bleistift im Jahresbericht und sucht weiter. Doch es gelingt ihm erst nach geraumer Zeit, einen zweiten Treffer zu landen. sebastian kropil – chorale florale – une plantasie musicale. Weiße Minuskeln im Zentrum unendlicher Schwärze, die absolute Reduktion der ästhetischen Mittel. Wenn das nicht nach Kunst riecht … Hilflos fuhrwerkt der Lemming mit der so genannten Maus herum, drückt frenetisch auf die Tasten des elfenbeinfarbenen Dings, und plötzlich verschwindet das Wort plantasie, um gleich darauf in giftigem Grün wieder zu erscheinen, sich aufzublähen, zu wachsen, ja förmlich über den Bildschirm zu fluten. Aus den kleinen Boxen zu beiden Seiten des Monitors ertönt jetzt ein scharfes Knirschen, ähnlich dem Geräusch einer zerkratzten Schellack auf dem Plattenteller, und ein Summen, wie man es zuweilen in der Nähe von Hochspannungsleitungen hören kann. Vor den Augen des Lemming entfaltet sich ein weiterer Schriftzug: la plantasie du kropol – kalksburg – randgasse 1/2 – freitag, 17. märz 2000 – 21 uhr. Damit stehen zwei Dinge fest: Sebastian Kropil ist Musiker geworden. Und: Es wird ein langer Abend. Der Lemming zahlt und verlässt das CaféModern, nicht ohne sich zuvor bei seinem neu gewonnen Freund bedankt zu haben.
Also ist er schließloch unverrichteter Dinge im Café Modern vis-à-vis vom Franz-Josefs-Bahnhof gelandet, das neben zwei ausgeleierten Flipperautomaten auch über einen Internetanschluss verfügt.
Ein großer Zwiespalt tut sich jetzt im Lemming auf, ein schmerzhafter Riss zwischen Körper und Geist, zwischen knurrendem Magen und klarem Verstand. Ein anderer Leopold kommt ihm in den Sinn, nämlich Leopold Figl, der ehemalige österreichische Außenminister und so genannte Vater des Staatsvertrags, von dem es heißt, er habe einst Chruschtschow und Molotow unter den Tisch getrunken, habe sie regelrecht abgefüllt, sie weich gesoffen und die Sowjets auf diese Art zum Abzug ihrer Besatzungstruppen bewegt. «Österreich ist frei!», hat Figl am fünfzehnten Mai 1955 vom Balkon des Schlosses Belvedere gerufen, und noch heute weiß jedes Kind, dass das Land diese Freiheit seinem guten Wein zu verdanken hat. Aber was, wenn die Russen damals den süffigen Heurigen abgelehnt wenn sie auf Tee und Milch beharrt hätten? Hätte sich Figl allein betrunken? Es geht, denkt der Lemming, doch schließlich darum, die Distanz zu verringern, und nicht, sie zu vergrößern. Zeigen wir uns also solidarisch und lassen wir das Beuschel Beuschel sein …
Unter dem riesigen Lainzer Tiergarten im Südosten Wiens liegt Kalksburg als äußerstes Grätzel des dreiundzwanzigsten Bezirks. Kalksburg ist klein, es erstreckt sich nur über wenige hundert Meter, und doch beherbergt es zwei der prominentesten Institutionen der Stadt: das Kollegium Kalksburg, ein ehemals von Jesuiten geführtes Schulzentrum, und schräg gegenüber, die berüchtigte Trinkerheilanstalt in der Mackgasse. Die psychiatrische Klinik am Steinhof und eben Kalksburg, das sind die vorletzten Stationen des gestrauchelten Durchschnitts-Wieners. Danach kommt nur noch der Zentralfriedhof. Es ist ein weiter Weg vom Liechtental nach Kalksburg; nicht weniger als dreimal muss der Lemming umsteigen, und als ihn Straßenbahn, U-Bahn, Schnellbahn und Bus endlich nach Liesing gebracht haben, muss er zu Fuß weiterlaufen, die Ketzergasse entlang, die kurz vor der Jesuitenschule verschämt ihre Richtung ändert und plötzlich Haselbrunnerstraße heißt. Um fünf vor neun steht er vor dem Haus in der Randgasse, froh, es doch noch geschafft zu haben.Offenbar findet das Konzert in der Wohnung des Künstlers statt; auf einem Zettel an der halb geöffneten Tür im erste Stock stehen abermals die Worte la plantasie du kropil, und aus dem Inneren dringen gedämpfte Stimmen.
Doch zunächst hat er etwas anderes vor. Eine Reise zurück ins letzte Jahrhundert, in das gediegene Ambiente der Belle Époque, in die erhabenen Hallen des Hotel Kaiser am Schottenring. Eine Reise, die er zu Fuß antreten kann. Sein Weg führt ihn durch die Schlickgasse, vorbei an der monumentalen Rossauer Kaserne, einem burgartigen Ziegelbau aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Als Bollwerk gegen mögliche Revolutionen wurde die Rossauer Kaserne 1870 fertig gestellt – und schrieb noch am Tag der Eröffnung Geschichte, nämlich Architekturgeschichte. Bei der Planung des mit Erkern und Giebelchen, Türmchen und Zinnen wohl bestückten Gebäudes war alles bedacht worden, alles bis auf eines: Man hatte die Toiletten vergessen. Bis ins Jahr 1990 war die Polizei hier untergebracht; danach gab es Bestrebungen, die Kaserne in ein Kulturhaus umzuwandeln. Freie Werkstätten und Künstlerateliers? Ein allzu friedliches Unterfangen, fanden die obersten Chargen des Bundesheers. Und so ließen sie rasch die Büros der Abteilung für militärische Vermessungstechnik hierher verlegen.
In der Nähe der Wiener Börse am Schottenring liegt als der Familienbetrieb der Söhnleins, das Hotel Kaiser. Kaum zehn Minuten braucht der Lemming, bis er vor dem eindrucksvollen Gründerzeitportal angelangt ist. Er faltet seinen alten Regenschirm zusammen und setzt die wuchtige Drehtür in Bewegung. Es ist eine magische Drehtür. Es ist eine Zeitmaschine. Ein kleiner Schritt nur für einen Menschen …, denkt der Lemming sofort, als er das Foyer betritt, aber ein großer Schritt in die Vergangenheit.
«Ach, und fast hätt ich’s vergessen … mit dem Peter Pribil habe ich sogar noch Kontakt. Geschäftlichen Kontakt. Wurstwaren Pribil kennen Sie wahrscheinlich, das ist die Fleischereikette seines Onkels. Der Peter ist da Geschäftsführer, in der Filiale drüben am Hohen Markt. Er beliefert unsere Küche, und ich muss sagen, beste Qualität, und immer pünktlich. Aber davon abgesehen hab ich wenig mit ihm zu tun. Sie wissen schon: Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps …»
«[…] Dann der Lagler … weißt du was vom Lagler?“ „Sitzt. In Stein. Seit zirka zwei Jahren schon. Raub und Betrug. Der Trottel geht doch wirklich auf die Volksbank in der Gersthofer Straße, schiebt dem Kassier einen Zettel hin, auf dem Geld oder Bombe! Steht, räumt ordentlich ab, flüchtet, und weißt, was dann passiert? Der Zettel war sei‘ eigene Visitenkarten!»
Nach dem Fensterwurf haben Sedlak und er die Flucht ergriffen; sie haben den delirierenden Steinhauser untergehakt und ihn in den nahe gelegenen Lannerpark gezerrt, so viel weiß der Lemming noch. Wahrscheinlich ist, dass er sich dort übergeben hat, unsicher nur noch, wie er und die beiden anderen zum Naschmarkt gekommen sind, um bei der Gräfin noch ein, zwei Achteln nachzulegen. Und ein Gulasch, dessen Reste er heute auf seiner Jacke entdeckt hat. Was absolut ungeklärt bleibt, ist sein Heimweg, ist die Frage, woher der Riss in seiner Hose, das Maschinenöl auf seinen Fingern stammt.
Grinzingers Begräbnis fällt ihm ein. Wann sollte es noch stattfinden? Sonntagvormittag, auf dem Zentralfriedhof, unten in Simmering. Vorbei, Lemming, versäumt, verschlafen, versoffen. Der Herr Doktor ist längst eingesargt und verscharrt, die Würmer binden sich ihre Lätzchen um, dass Buffet ist eröffnet.
«Süße, ach süße kleine Klara», brummt der Lemming. Einen Versuch ist es wert. Klara Breitner, die Schwester. Wenn sie inzwischen nicht geheiratet hat, könnte sie im Telefonbuch stehen … Und wirklich. Da ist es, schwarz auf weiß: Klara Breitner, diplomierte Tierärztin, Roterdstraße 5, sechzehnter Bezirk. Eine Tierärztin, denkt der Lemming, das kommt ja wie gerufen … Aber Castro hat offenbar keine Lust, das Haus zu verlassen. Er trottet ins Schlafzimmer und lässt sich grunzend auf dem Teppich nieder. Der Lemming putzt sich ein weiteres Mal die Zähne. Und macht sich dann alleine auf den Weg nach Ottakring.
«Hier bin ich», sagt der Lemming mit dem Brustton der Überzeugung. Die Frau legte den Kopf ein wenig zur Seite. Und dann lächelt sie. Klara Breitner lächelt, und ihre Augen sind braun. «Das sehe ich. Sie sind hier. Aber ich glaube nicht, dass Sie hier richtig sind. Ich behandle nämlich nur Vierbeiner. Außerdem … es ist Sonntag. Sie sollten besser gleich hinüber ins Wilheminenspital.»
Eine Hand schiebt sich weich und bedrohlich über den Samt der rubinroten Couch, schiebt sich auf die Hand des Lemming zu. Er zieht seine rasch zurück. In der Wipplinger Straße, unweit der Fleischerei seines Onkels am Hohen Markt, wohnt Peter Pribil. Ein herrschaftliches Haus mit breiten Treppen und Stukkaturen an den Plafonds, eine weiträumige, helle Wohnung im vierten Stockwerk, gediegen und großzügig eingerichtet. Geschmackvoll auch, mit einem Flair von Weiblichkeit. Ein bisschen zu viel Weiblichkeit, wie der Lemming findet.
Der Hohe Markt, der unweit vom Stephansdom im Zentrum des ersten Bezirks liegt, gilt als ältester Platz Wiens. Verbürgt ist, dass sich hier eine warmluftbeheizte Badeanstalt des Römerlagers Vindobona befand, die so manchem, aus südlicheren Gefilden stammenden Legionär dabei half, seine Rheumabeschwerden zu lindern. Marc Aurel, der römische Kaiser und Philosoph, verbrachte viele Jahre in Vindobona, bevor er im Jahr 180der schwarzen Pest zum Opfer fiel. Trotzdem: Er defiliert noch heute über den Hohen Markt. An jedem Mittag zieht er als eine von zwölf geschichtsträchtigen Figuren über das Mosaik der so genannten Anker-Uhr, einer brückenförmigen Konstruktion in der nordöstlichen Ecke des Platzes. Dann zücken die Touristen ihre Fotoapparate und lauschen der pythischen Siegesode des Pindar, und keiner mehr, kein Einziger, beachtet die hübschen rosa Schweinswürste, die schräg vis-à-vis im Schaufenster der Fleischerei Pribil hängt.
Er überquert den Ring, geht an der Börse vorbei Richtung Innenstadt, um nach zwanzigminütigem Fußmarsch zum Hohen Markt zu gelangen. Und die ganze Zeit hindurch, den ganzen Weg entlang, grübelt der Lemming über sein Handeln nach. Wie schmal ist der Grat zwischen Unmut und Mut? Zwischen Duldung und Schuld? Zwischen Recht und Moral? Muss er ein schlechtes Gewissen haben? War er ein feiger Saboteur, der verschlagen und geifernd im Schutz der Dunkelheit sein abscheuliches Werk verrichtet?
Er sitzt eingehüllt zwischen Palmen und Orchideen; die Sonne schillert warum durch die hohe, gläserne Kuppel und tanzt in kleinen, hellen Flecken auf seiner Decke, auf seinem Schoß. Ezer Kelemen ist ein sehr alter Mann. Der Lemming hat ihn abgeholt, in seiner Wohnung in der Tivoligasse, und hat seinen Rollstuhl dann quer durch den Schönbrunner Schlosspark bis zum Palmenhaus geschoben. Es war ein Schweigemarsch durch die breiten Alleen, still und ergeben wie die geometrisch gestutzten, in ihr barockes Korsett gezwungenen Büsche und Bäume am Wegrand. […] Und hier sind sie gelandet, in diesem funkelnden Palast aus Eisen und Glas, auf einer winzigen Lichtung inmitten der Tropen.
Der Lemming tritt hinter den Alten und schiebt ihn behutsam aus dem Palmenhaus. Minutenlang ist nur das Knirschen der Kiesel unter den Rädern zu hören, dann ein flüchtiger Windstoß, der ein fernes Brüllen und Kreischen herüberträgt – die Geräusche der Tiere aus dem benachbarten Schönbrunner Zoo. Der Lemming steuert weg davon, nimmt einen anderen Weg.
Der Lemming läuft los. Rennt durch den Vorraum, stößt Olaf zur Seite, sieht einen Schatten um die Ecke huschen, setzt ihm nach, nimmt drei Stufen auf einmal, vier Stock in die Tiefe, hinaus auf die Straße. Ein Blick nach links, nach rechts, da läuft er, der Rotbart, ohne sich umzudrehen, läuft Richtung Börse, der Lemming hinterher. Bis zum Ring und über die Fahrbahn, dann links hinauf zum Schottentor, vorbei an der Universität, vorne der Unbekannte, fünfzig, hundert, bald zweihundert Meter hinter ihm der Lemming. Der Abstand vergrößert sich, die Jagd scheint aussichtslos, stärker ist das Wild, schneller und zäher, doch kurz vor dem Rathauspark verlangsamt sich seine Gangart, es fällt vom Galopp in den Trab und schließlich in einen gemächlich beschleunigten Schritt. Der Lemming holt auf, keuchend, versucht, sich dem Mann im Schutz von Passanten und parkenden Autos zu nähern. Und da wendet der andere auch schon seinen Kopf nach hinten, sein Blick streift den halb verborgenen Lemming, bleibt aber nicht an ihm hängen, sondern sucht weiter die Straße ab. Es ist der wütende Olaf, nach dem er Ausschau hält. Seinen wahren Verfolger hat er, scheint’s, gar nicht bemerkt. Jetzt schreitet er wieder aus, überquert zwischen Rathaus und Burgtheater abermals die Straße, springt unter den deftigen Flüchen eines Fiakerfahrers knapp vor dessen schnaubendem Pferdegespann auf den Gehsteig, eilt weiter. Der Lemming hinterher. Durch die Rosenbeete des Volksgartens, am Theseustempel vorbei geht es zügig zur Hofburg hinüber. Und hier, in der Mitte des riesigen, öden, geschichts- und schicksalsträchtigen Heldenplatzes, bleibt der Rotbart endlich stehen. Vor ihm erhebt sich, im Halbrund nach innen gewölbt, die Fassade der neuen Burg, und im Zentrum ihres Gemäuers, über dem hohen Eingangstor der Nationalbibliothek, ragt die Brüstung, ragt der Balkon. […] Nur noch wenige Meter trennen den Lemming von dem Unbekannten, der reglos und grüblerisch neben dem Denkmal Erzherzog Karls verharrt. […] Der Lemming hat nun seine Zielposition erreicht. Keine zwei Meter steht er von seinem Opfer entfernt und ringt um Gelassenheit, um innere Ruhe, vor allem aber um eine Idee. Im Grunde sieht er nur eine Möglichkeit: Frontalangriff. Wenn seine Ahnung stimmt, dann müsste es so funktionieren …
Diesmal ist er nicht mehr einzuholen. Noch ehe der Lemming die Wahrheit begreifen kann, rennt Signore Diodato los und flüchtet mit riesigen Sätzen durch das Burgtor hinaus auf die Ringstraße. Nach wenigen Augenblicken ist David Neumann in Richtung Oper verschwunden.
Im westlichen Winkel des Praters zwischen Ausstellungsstraße und Hauptallee liegt wie ein vergammeltes Torteneck der Wurstelprater. Schon Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entstanden hier die ersten Marktbuden, nachdem Joseph II. das kaiserliche Jagdgebiet zur allgemeinen Benutzung freigegeben hatte. Im Jahr 1840 nahm der legendäre Schausteller Basileo Calafati das erste große Ringelspiel in Betrieb. Johann Fürsts Singspielhalle und Präuschers Panopticum folgten, dann Baschiks Theater für Zauberei, Reinprechts Pony-Karussell und das Varieté der Gebrüder Leicht. Gemeinsam begründeten sie einen der größten und merkwürdigsten Vergnügungsparks Europas: Wer ihn betritt, wird zum Grenzgänger zwischen Geschmacklosigkeit und Poesie, Modernität und Verstaubtheit, Manie und Melancholie. Tagsüber und abends von den Marktschreiern regiert, verwandelt sich der Wurstelprater nach Mitternacht zum Jadgrevier der Huren und Diebe; und nichts vermag darüber hinwegtäuschen, dass das morbide Wiener Karma von Jahrhunderten auf ihm lastet. Am Haupteingang ragt, der Innenstadt zugewandt, sein Wahrzeichen auf – das Riesenrad. Fünfundsechzig Meter hoch, ist es zugleich das verstaubte Fanal und die alternde Diva des Wurstelpraters. Gemächlich und müde dreht es seine Runden, und jedes Mal, wenn einer der fünfzehn Waggons den Zenit erreicht, hält es an und steht still – angeblich, um seinen Passagieren am Boden das Ein- und Aussteigen zu erleichtern. Aber das ist nur ein Vorwand. Es will sich einfach ausruhen, das Riesenrad. Acht Minuten vor zehn lässt Huber den Wagen um das Rondeau des Pratersterns schlittern, überfährt noch rasch eine gelbe Ampel und hält mit quietschenden Reifen auf dem großen Busparkplatz gegenüber dem Planetarium.
Eigentlich ist es ein freundlicher Tag. Im Prater blühn wieder die Bäume, blau ist der Himmel, locker gesprenkelt mit flauschigen Wolkenschäfchen. Ein Duft von Mandeln und Zuckerwatte lieht in der Luft. Und das muntere Pfeifen der Liliputbahn.
Die Uhr zeigt Viertel elf. Von der Ausstellungsstraße her nähert sich eiligen Schrittes ein Mann. Klein, gedrungen, im sandfarbenen Anzug, ein bläuliches Seidentuch unter dem Hemdkragen. Albert Söhnlein verlangsamt sein Tempo, blickt sich um und fragt dann den Lemming, ohne ihn anzusehen: «Hier noch frei?»
Söhnlein zaudert, doch er widerspricht dem Lemming nicht. Folgt ihm die Stufen zum Riesenrad hinauf und betritt den leeren Waggon. Die Türen schließen sich. Ein sanfter Ruck, die Fahrt beginnt. Eine Zeit lang herrscht Schweigen zwischen den Männern. Söhnlein blickt aus dem Fenster und heuchelt freundliches Interesse am Panorama. Der Lemming dagegen widmet sich seinem inneren Auge. Es ist ein altes Bild, das vor ihm auftaucht, ein alter Film: Der dritte Mann. Joseph Cotten und Orson Welles – Holly Martins, der Hobbydetektiv, und Harry Lime, der Mörder und Betrüger; die beiden standen genauso da und belauerten einander, während sie das Riesenrad hoch über die Schutthalden des zerbombten Nachkriegswien hob.
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