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Veruntreute Geschichte. Die Wiener Salons und Literatencafés

3-552-03705-5
June 1985
June 1985
QuoteMan vergißt allerdings, daß die starren Fronten, hinter denen sich das "rote" und das "schwarze" Wien gegeneinander verschanzten, pompöse Stellen hatten, daß es jenseits der militanten Auseinandersetzungen zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft und den organisatorischen Abschirmungen ihrer Machtbereiche neutrale Zonen gab, in denen die persönliche Kommunikation und der Gesprächskontakt fortbestanden. Es gab sie unter Intellektuellen, Literaten, Künstlern, Journalisten, sie wirkten in Veranstaltungen fort, wo der Geist der Liberalität hochgehalten wurde. Die Rolle, die die von Haß und Feindschaft unberührt gebliebene Institution des Kaffeehauses dabei spielte, war beachtlich. Das "Herrenhof", das "Rebhuhn", das "Café Museum" waren solche Orte der loyalen Begegnung, Sammelpunkte von Intellektuellen aus verschiedensten Berufen, die einander kannten, voneinander wußten. Es war, wollte man es soziologisch definieren, ein Milieu der fließenden Übergänge, der existentiellen Mischformen und relativierenden Individualitäten, demnach ein besonders geeignetes Forum für das freie Gespräch, die impulsive Auseinandersetzung, die systematische Pflege von Querverbindungen zwischen politisch divergierenden Gruppen und Clans.

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QuoteWenn ich an das Café Herrenhof zurückdenke, stellt sich selbstverständlich auch Kritik ein. Wir diskutierten über Kunst, Literatur, Philosophie, über Einsteins Relativitätstheorie, die Psychoanalyse, die Individualpsychologie, über Franz Kafka und Karl Kraus, über Joyce und Robert Musil und selbstverständlich auch über Politik, aber wir fühlten uns über die aktuelle, pragmatische Politik erhaben, spotteten über sie meist mit dünkelhafter Blasiertheit und bewegten uns lieber in realitätsfernen Denkbereichen, in Abstraktionen und Spekulationen.

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QuoteMeine eigene Erinnerung an das "Herrenhof" reicht bis in die frühen Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts zurück. Es war ein weitläufiges, großräumiges Etablissement, dessen dekoratives Interieur dem Jugendstil nachempfunden war. Wenn man durch die sanft pfauchende und allzu hastige Schritte besinnlich retardierende Drehtür eintrat, befand man sich zunächst in einem langgestreckten Raum, dessen behäbige Fensterlogen den Blick auf die prächtigen Palais der Herrengasse, die Residenzen der dem kaiserlichen Hof nahestehenden Hocharistokratie freigaben. Die Überzüge der bequemen Fauteuils, die Holztäfelung der Wände, die Tischplatten und Luster waren aus kostbarem Material, wirkten nobel und gediegen.

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QuoteErnst Polak (1886-1947) war nicht nur eine der überragenden Figuren unter den Herrenhofstammgästen, er war geradezu die Personifikation des Herrenhofgeistes. Berichtet man über ihn, kommt man der Mentalität und Bewußtseinslage, der Lebensweise und Gedankenwelt der typischen, notorischen Herrenhofstammgäste am nächsten. [...] In Prag, später in Wien, übte er den Beruf eines Bankbeamten (zuletzt Prokurist) der Länderbank aus. Der Schwerpunkt seines Wirkens lag jedoch eindeutig im gesellschaftlichen und geistigen Bereich der Literaturcafés, einerlei ob es sich in seinen Jugendjahren um das Café Arco oder das "Continental" in Prag, vorübergehend "Dome" und "Aux Deux Magots" in Paris oder seine Haupt- und Dauerdomäne (1917-1938), das Café Herrenhof in Wien handelte.

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QuoteIn den fünf Jahren zwischen 1933, der Machtergreifung Hitlers in Deutschland, und der Einverleibung Österreichs 1938 häuften sich Besucher aus Prag im Café Herrenhof. Das Interesse an den Geschehnissen in Österreich nahm in dem Maße zu, in dem man die eigene Bedrohung durch Hitler immer stärker fühlte. Trotz schmälernden Einbußen und Abwertungen, die Wiens Ansehen nach dem Zusammenbruch der Monarchie hinnehmen mußte, galt die einstige Metropole des Habsburgerreiches immer noch als wichtigste Schalt- und Schlüsselposition im Zentrum Mitteleuropas, sowohl in geopolitischer wie in kultureller Hinsicht. Immer noch fuhren wohlhabende Bürger aus Prag, Brünn, Iglau und so weiter, zu großen Opernabenden und Burgtheaterpremieren nach Wien. Nun bangten diese Besucher aus den Nachbarländern um das künftige Schicksal Wiens, als ginge es um die eigene Existenz.

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QuoteMit fünfzehn Jahren war ich kein Revolutionär und auch mein Freund Poldi war es nicht, als wir am 12. November 1918 in der Strauchgasse, knapp vor dem Eingang des Café Central, gemeinsam in die johlende Menge drängten, die abwechselnd "Nie wieder Krieg!", "Nieder mit Habsburg!" und "Hoch die Republik" schrie.[...] Es war eine müde Revolution. Eine Revolution, die sich im Vergleich mit großen historischen Aufständen und Umwälzungen, wie wir sie aus dem Geschichtsunterricht kannten, eher in Passivität vollzog, in retardierenden Phasen, denn erst Stunden später langten organisierte Gruppen von Arbeitern im Regierungsviertel ein, die sich dann durchwegs diszipliniert verhielten. Wir beschlossen, ins Café Central zu gehen, um dort vielleicht den Dichter Franz Werfel aus der Nähe zu sehen. Im Tumult vor dem Landhaus war uns ein dunkelgekleideter rundlicher Mann aufgefallen, der auf den Stufen vor dem Caféportal stand, begeistert seinen Hut schwenkte und einige zündende Parolen in die Menge schrie, während die langen Locken um seinen Mund wehten. Jemand neben uns sagte:"Das ist der Dichter Franz Werfel".

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QuoteJoseph Roth führte Anfang der zwanziger Jahre ein unstetes Leben. Er pendelte zwischen Berlin, Paris, Frankfurt und Wien, überall mit kurzen Aufenthalten; meist wohnte er in Hotels, in Berlin sogar ein Jahr lang. Als Zuhause dienten ihm Cafés - im Sommer die Terrassen, im Winter auch die rauchigen Interieurs. In Wien waren mittags das "Rebhuhn" in der Goldschmiedgasse, abends, bis spät in die Nacht, das "Herrenhof" seine Stammcafés. Im "Herrenhof" saß er mit Alfred Polgar, Franz Werfel, Anton Kuh, Karl Tschuppik und seinem engeren Kollegen Max Prels, einem Redakteur des im Steyrermühlverlag erscheinenden "Neuen 8 Uhr Blattes", das mehrmals wöchentlich Feulletons und Glossen von Roth brachte.

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QuoteEs war ein in memoriam, gemischt aus Grimm und Wehmut, als Anton Kuh seinen kämpferischen Nachruf auf das Café Central mit der Feststellung verband, daß im November 1918, während auf dem Balkon des landhauses in der Wiener Herrengasse die Republik Österreich ausgerufen wurde, im Wiener Geistesleben zugleich eine stürmisch-erneuernde Sezession stattfand. Man kann es bei ihm nachlesen: "Bibiana Amon, die Strahlende, als Gretchen von Peter Altenberg entdeckt, aber nun schon zur Helena erblüht, stand auf der obersten der drei Eingangsstufen des "Central", blickte zum Gewühl beim Landhaus, sah ihre Geliebten mitten darin und rief: Gib acht, Anton! Die Revolution!" Wenige Tage später "saß alles, was politisch und erotisch revolutionär gesinnt war" zwei Häuser weiter im kurz zuvor neu eröffneten Café Herrenhof - "Die Mumien blieben im Alten" und, fügte Kuh hinzu: "Die Scheidung war folgerichtig."

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QuoteKaum einer von den zahlreichen Schriftstellern, Künstlern und sonstwie dem Geistesleben schöpferisch oder rezeptiv verbundenen Stammgästen des Café Herrenhof fiel so sehr aus der allgemein üblichen Klischeevorstellung vom Habitus eines Intelektuellen oder gar eines Bohémiens wie der Dichter Alexander Lernet-Holenia. Mit seiner schmalen, schlanken, hochgewachsenen Erscheinung, der lässig eleganten Kleidung, der strammen Haltung stand er in schroffem Kontrast zum Durchschnitt der nervös-betriebsamen oder kontemplativ in Gespräche versunkenen Typen, die das "Herrenhof" bevölkerten: Ein "ritterlicher Poet", ein "letzter Kavalier und Grandseigneur" hatte sich in die wildweidende Herde wichtigtuerischer Kaffeehausliteraten und Journalisten verirrt.

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QuoteHilde Spiel bedarf keiner nachrühmenden Erläuterungen. Als engagierte Kritikerin, Essayistin, Herausgeberin, Übersetzerin, auch als Autorin des ausgezeichneten diskursiven Emigrantenromans "Lisas Zimmer" ist sie erfolgreich präsent. Schon damals, in den frühen Dreißigerjahren, als sportlich-attraktive Absolventin der "Schwarzwaldschule" zu freiem Denken erzogen, galt sie im "Herrenhof" als vielversprechende Literaturdebütantin. Dankenswerter Weise gab sie mir briefliche Auskunft über ihre Jugendjahre im "Herrenhof": "... Ich bin etwa mit siebzehn oder achtzehn Jahren ins "Herrenhof" gekommen, das ja im selben Häuserblock lag, an dessen Rückseite, in der Wallnerstraße Nr. 9, auf den oberen Stockwerken die Schwarzwaldschule untergebracht war. Wahrscheinlich kam ich durch den Fritz Thorn und den Torberg hin, die ich beide, Torberg noch als Kantor [Sein ursprünglicher Name lautete Kantor. Aus dessen zweiter Silbe und Berg, dem Mädchennamen seiner Mutter, entstand der nordischanmutende Name des Schriftstellers Torberg.], als Wasserballer im Dianabad, durch die damalige Meisterschwimmerin Maria Puchberger, jetzige Baronin Ditfurth, ein oder zwei Jahre früher kennengelernt hatte. Im "Herrenhof", das sehr bald zu einer zweiten Heimat wurde und in dem ich sehr häufig nachmittags oder abends saß, wenn ich nicht Ski fuhr oder im Schwimmklub trainierte, das ich vor allem (und zwar im zweiten, großen Saal) mit Thorn, mit Torberg, wann immer er in Wie war, mit Ernst Stern, dem Zeichner, Ringer und Privatphilosophen, mit Ernst Polak, der - obwohl wesentlich älter - gleich mir bei Moritz Schlick studierte, und mit Peter Hammerschlag, der mir jede Woche einen Schilling meines fünf Schilling betragenden Taschengeldes abnahm, als Tribut an seine verspätete Peter Altenberg-Existenz: Wie P.A. hatte er begütete Eltern.

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QuoteEs war ein seltsam gemischtes Völklein, das sich hier zusammengefunden hatte. Viele stammten aus gutbürgerlichen Familien, die durch Krieg und Inflation verarmt waren, es gab auch solche, die bloß emanzipiert leben wollten oder wirklichkeitsfremde politische Programme ausheckten. Die meisten hielten sich tagsüber im "Herrehof" auf, wo sie Anschluß an Gleichgesinnte oder zumindest ähnlich Denkende suchten. So lernten die beiden "Gong"-Erfinder einander kennen. Die Existenz des "Gong" begann mit einem Faschingsfest. Ein begütertes Ehepaar, Robert und Anna Lang, Besitzer einer Metallwarenfabrik, wollten ihrem privaten Karneval eine besondere Note geben und die Gäste mit einem Puppenspiel überraschen. Raphael Pollack und E.K.Maenner erhielten den Auftrag. Sie animierten Freunde zu unbezahlter Mitarbeit, richteten im Tiefparterre des Café Herrenhof eine Werkstätte ein, bastelten Bühne, Puppen und Apparaturen und brachten die höchst erfolgreich improvisierte Premiere einer Kasperliade des Grafen Pocci zustande. Der Erfolg war so groß, daß sich die Amateure bald darauf in zünftige Puppenspieler verwandelten. Die Gäste applaudierten begeistert, die Kritik war äußerst wohlwollend.

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QuoteDie Obertimpflers stammten aus Südtirol und waren durch die mit ihnen verschwägerte Familie Speckbacher auch mit dem Freiheitskämpfer Andreas Hofer verwandt. Sie besaßen das legendäre Café Casa Piccola in der Mariahilferstraße, dessen Geschichte über die Biedermeierzeit weit hinausreichte. 1809 hatte hier Napoleons Kriegsrat getagt, 1820 trafen sich in einem versteckten Nebenraum die italienischen Geheimbündler "Carbonari", die für Italiens Befreiung von der habsburgerischen Herrschaft kämpften.

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QuoteIm Café Raimund dominierte ein Kreis von Stammgästen, der sich gewissermaßen als elitäre Filiale von dem sozialen Durcheinander anderer großer Zentren der Wiener Kaffeehauskultur bewußt abhob. Hier residierten Egon Friedell und Lisa Loos, geborene Obertimpfler, die noch in hohem Alter mit Schönheit begnadete Frau des den Jugendstil verdammten Architekten Adolf Loos. [...] Franz Theodor Csokor, damals Dramaturg am Deutschen Volkstheater, war häufiger Gast dieser Runde, deren stabile Mitte sich aus dem Theaterkritiker Ludwig Ullmann, dem auf Schopenhauer spezialisierten jungen Schriftsteller Walther Schneider und dem Volkstheaterdirektor Rudolf Beer zusammensetzte. Beer konnte als legitimer Vorläufer des späteren Burgtheaterdirektors Haeussermann gelten, weil er ebenso wie dieser die gabe besaß, mit seinen zahlreichen Witzen aus dem Stagreif pfeilschnell mitten ins Ziel zu treffen.

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