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Lässliche Todsünden

9783462041279
August 2009
August 2009
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QuoteAm Südbahnhof holte ihr Freund sie ab, den sie schon kurz nach der Matura für ein selbstmörderisches halbes Jahr mit dem vierzigjährigen Arzt verlassen würde, erste Erfahrungen mit Kokain und Impotenz inklusive. die Jahre, die folgten, waren viel dunkler gewesen als das so verheißungsvoll glitzernde Ende der Schulzeit. Sie nahm sich vor, bei ihren eigenen Kindern großzügig zu sein, wenn sie in diesem unübersichtlichen Alter um die Zwanzig straucheln sollten. Sie legte die Wange an den fast haarlosen Babykopf. Sie war aus dem Zug gestiegen, den Rucksack, der unverändert muffig roch, geschultert, und da war ihr erster Freund gestanden, mit seinem ironischen Lächeln, er war so ein lieber Kerl. Er hatte einen unsäglichen hellgrauen Filzjanker getragen, das wusste sie noch genau. Filz wurde aber erst zwanzig Jahre später modern.

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QuoteDer eigentliche Beginn war ein Spaziergang über den Jüdischen Friedhof, ein paar Wochen später. Im Mausoleum der Familie Feyngoldt saßen sie und tranken aus einer Rotweinflasche, während die Herbststürme das Laub hin und her jagten. Dann küssten sie sich lange, und Ruments Hände, die so gerne Vorboten sein wollten, suchten unter Joanas Lederjacke, Pullover, T-Shirt und Unterhemd nach Haut. Dass Maximilian und Feiga Feyngoldt nichts dagegen haben würden, wenn er hier, im Schutz ihres steinernen Tempels, mit Joana etwas anstellte, dessen war er sich sicher.

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QuoteEin Arztbesuch am Sonntag, diese Besonderheit, da würde sich Joana sicher gleich noch viel schlechter fühlen. Außerdem würde er sie zwingen müssen, sie ging nicht gern außerhalb der Reihe, es sei denn, sie hatte wirklich unerträgliche Schmerzen. Am Wochenende und in der Nacht ging sie eigentlich nur mit Blasenkatarrh freiwillig zum Arzt, da ließ sie sich heulend in jede Notaufnahme fahren, sogar ins Kaiser-Franz-Joseph, aber nur, wenn in der ganzen Stadt wirklich keine andere Uro offen hatte. Im Kaiser-Franz-Joseph waren sie entweder zweimal an eine völlig unfähige Nachtschicht geraten, oder es war der Stil des Hauses, was Rument sich aber weiterhin weigerte zu glauben. Wenn das der medizinische Standard im einundzwanzigsten Jahrhundert war, müsste man das Spital eigentlich anzeigen! Beide Male hatten sie einen Katheder gelegt, als ob bei einem Infekt von Joanas Ausmaßen - Krämpfe, Fieber, Blut - die paar Keime, die ihne Katheder in die Urinprobe rutschten, noch eine Rolle spielten. Und als ob nicht jede Medizinstudent im ersten Semester wissen musste, was für eine Qual das war, die Kathederisierung in einem solchen Zustand. Nie wieder Kaiser-Franz-Joseph, dann lieber gleich Sankt Pölten, aber noch besser, man hatte Cipro auf Vorrat, zusammengebettelt aus Ärztemustern, und kam überhaupt nicht mehr in eine solche Situation.

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QuoteDiese Vorstellung von sich selbst versuchte er eine Zeit lang damit zu bekämpfen, dass er sich das genaue Gegenteil dessen einredete, was ihm seine Instinkte sagten. Er saß etwa in der "Alten Schmiede", hörte Franz Gregor, einen von Isoldes Freunden, aus seinen Gedichten lesen und ertappte sich dabei, dass er sie für proletarischen Kitsch hielt. Also verteidigte er Gregor anschließend, wo er ging und stand, als das kommende Genie, den Wiener Bukowski oder sogar Ginsberg, bis er es irgendwann selbst glaubte.

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QuoteUnd dann schloss auch Cajou im Stephansdom den heiligen Bund der Ehe, auch Cajou stand im Palais Schwarzenberg und ließ sich von Hunderten Gratulanten küssen und segnen, und im Gegensatz zu Feri hatte er noch eine Hochadelige geheiratet, hinauf statt hinunter.

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QuoteEuler-Wadl, Cajous früherer Chef, war einer mit der selbstbewussten Einstellung. Cajou verstand sich mit ihm von Anfang an gut. Euler-Wadl, der sich gern als "einfacher Bauernbub" bezeichnete, obwohl seine Familie in Kärnten zu den einflussreichen Großgrundbesitzern gehörte, war ein barockes Monster, ein beruflich wie sexuell hochtouriger Mensch. "Holt's mir mein' Graf'!", brüllte er, wenn er von einem seiner konspirativen, alkoholgeschmierten Mittagstermine oder einem Schäferstündchen im Hotel Orient in die Firma zurückkehrte, und Cajou ließ sich dann ein wenig Zeit, ging hinein, ohne anzuklopfen, setzte sich, ohne aufgefordert zu sein, und korrigierte: "Meinen Grafen."

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QuoteAber das Mädchen fiel ihm auf. Es ähnelte wohl ein wenig der jungen Isolde, das erkannte er erst später. Vielleicht war es das Lächeln, das ihn irritierte, ein Lächeln so maskenhaft, wie er selbst sich oft beim Freundlichsein fühlte. Das Mädchen kam von rechts, aus der Goldschmiedgasse, sie stießen fast zusammen, er wich nach links aus und taumelte beinhae, es lächelte ihn auf jene befremdliche Weise an und ging zügig weiter, den Dom entlang und schließlich in den Hof der Deutschen Ordenskirche hinein, Cajou, der am Graben einen Espresso hatte trinken wollen, bog stattdessen ab und schlenderte in die Singerstraße. Dort erschien das Mädchen prompt, das schwere Tor fiel hinter ihm zu. Es ging schnell, so schnell wie er, es war leicht, ihm zu folgen. Cajou dachte gar nichts Bestimmtes, er ging einfach weiter, ihm war ja egal, wohin.

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