Die Klavierspielerin
"Erika K. wirft sich entschlossen in den Frühlingssturm und hofft, daß sie heil am anderen Ende herauskommen wird; es gilt, diesen offenen Platz vor dem Rathaus zu überqueren. Ein Hund neben ihr spürt ebenfalls den ersten Hauch des Frühlings."
"Es ist einer von diesen böse flimmernden Frühlingstagen gewesen, an dem die Damen Kohlt den bereits vollkommen orientierungslosen und verstandesschwachen Vater in das niederösterreichische Sanatorium eingeliefert haben, bevor das staatliche Irrenhaus Am Steinhof - selbst der Landesfremde kennt es aus düsteren Balladen - ihn aufnahm und zum Bleiben einlud. So lange er wollte! Ganz wie gewünscht."
"In den Schaufenstern des Metro-Kinos hockt derweil ungehindert das rosa Fleisch in verschiedenen Formen, Ausführungen und Preiskategorien. Es wuchert und ufert aus, weil Erika K. derzeit nicht vor dem Kino Wache halten kann. Die Sitzpreise sind genormt, vorne ist es billiger als hinten, obwohl man vorne näher ist und vielleicht besser in die Körper hineinsieht."
"Aus seiner hinteren Hosentasche holt er jetzt, da er auf der Straße ist, die Liebe zum Fräulein Kohut hervor. Da er zufällig ganz allein ist und keinen sportlich besiegen kann, klettert er an dieser Liebe hinauf zu einem Höhepunkt, der gleichzeitig körperlich wie geistig ist. Wie an einer unsichtbaren Strickleiter.
In federnden Weitsprüngen hetzt er die Johannesgasse hinauf zur Kärtnerstraße und die Kärtnerstraße entlang zum Ring. Saurierhaft sich aneinander vorbeischlängelnde Straßenbahnen vor der Oper bilden eine natürliche Barriere für Klemmer, die schwer zu übersteigen ist, und daher muss er, trotz Wagemut mit der Rolltreppe in den Bauch der Opernkreuzung hinunter."
"Im Wiener Wurstelprater unterhält sich das kleine, in den Praterauen das geile Volk, jedes auf seine Weise. Im Wurstelprater pflanzen bis an den Rand mit Schweinsbraten, Knödeln, Bier oder Wein vollgefüllte Eltern ihre ebenso aufgefüllte Brut in die Töpfe oder auf die bunt lackierten (Plastik-)Pferchen, Elefanten, Autos, bösen Drachen hinein oder hinauf, und das in Drehung versetzte Kind speit das ihm vorher mühsam Eingeschaufelte wieder heraus."
"Erst wenn das Licht des Tages erlischt und sich die Nacht breitmacht mit Lampe und Handarbeit oder mit Schlagring und Pistole, erfolgt der Auftritt von Menschen, die im Leben eher weniger geführt worden sind, meist Frauen. Selten aber doch:sehr junge Männer, denn wenn diese älter werden, sind sie ihren Kunden noch weniger wert als ältere Frauen. Die dem Homosexuellen natürlich in keinem Stadium etwas wert sind. Dann öffnet der Praterstrich seine Tore.
Er ist überall, in ganz Wien, und schon beim Kleinkind bekannt, das davor gewarnt wird, in der Dunkelheit diesem Ort auch nur in die fernere Nähe zu kommen: Links die Buben, rechts die Mädchen. Man findet hier viele ältere Frauen am Rande ihres Berufs und ihres Lebens, vor. Oft trifft man auch nur mehr ihre zerschossenen, aus fahrenden Autos geworfenen Überreste."
"Jagdlich webt sich das Schiffchen Erika locker durchs Revier, das sich über den ganzen grünen Teil des Praters erstreckt. Auch das ist seit kurzem ihre Gegend. Sie hat ihren Wirkungsbereich erweitert, das Wild in ihrer näheren Umgebung kennt sie längst. Man braucht Mut dazu. Sie hat festes Schuhwerk an, mit dem sie notfalls sogar in die Büsche, in Hundeknödel, in leere, phallisch geformte Plastikfläschchen mit den flüssigen Resten giftig eingefärbter Kinderlimonade (für die proSorte Geschmack je eine Tierart singend im Fernsehen wirbt), in zu geheimnisvollen Zwecken verwendete, verschmierte Papierhaufen, in Pappteller mit Senfresten, in zerbrochene Flaschen oder in, ihre ehemalige Schwanzform noch lose bewahrende, vollgefüllte Gummiware treten kann, falls sie entdeckt werden sollte. Sie wittert nervös vorbeugend. Sie zieht die Luft ein und bläst sie wieder aus.
Doch hier, am Praterstern, wo sie aussteigt, ist es vorläufig noch nicht gefährlich. Zwar mischen sich auch hier schon läufige Männer unter harmlose Passanten und Flaneure, aber auch die elegante Dame kann durchaus einmal dem Praterstern einen zwanglosen Besuch abstatten, obzwar die Gegend nicht fein ist."
"Jetzt weicht Fräulein Kohut einem frech nach ihr tappenden Jugoslawen aus, der ihr eine defekte Kaffeemaschine und seine fernere Begleitung zumutet. Er muß nur noch zusammenpacken. Erika steigt, den Kopf gezielt abwendend, über etwas unsichtbares hinweg und zielt auf die Praterauen ab, in denen der einzelne sich rasch verliert. Sie allerdings strebt keinen Verlust ihrer Person an, sondern eher: Gewinn. Und - angenommen, sie verlöre sich - ihre Mutter, deren Besitzstand sie seit ihrer Geburt mehrt, würde sofort ihre Ansprüche anmelden gehen. Dann suchte das ganze Land nach ihr, mit Presse, Rundfunk und Fernsehen. Etwas zieht Erika saugend in diese Landschaft hinein, und nicht zum ersten Mal heute. Sie war schon öfter hier. Sie kennt sich aus. Die Menschenmeng dünnt aus. Sie zerfließt an ihren Rändern, die einzelnen Individuen streben auseinander gleich Ameisen, von denen jede eine bestimmte Aufgabe in ihrem Staat übernommen hat. Nach einer Stunde präsentiert das Tier dann stolz ein Stück Obst oder Aas.
Eben haben sich an den Haltestellen noch Menschentrauben, Gruppen und Inseln zusammengeballt, um irgendwo gemeinsam hinzustürzen, und nun, da es, von Erika gut berechnet, rasch dunkel wird, erlöschen auch die Lichter menschlicher Anwesenheit. Um die künstlichen Lichter der Lampen hingegen ballt es sich immer mehr zusammen. Hier, im Abseits, befinden sich übergangslos nur mehr jene, die beruflich hier sein müssen. Oder die ihrem Hobby, dem Vögeln oder eventuell dem Berauben und Töten der von ihnen gevögelten Person nachgehen. Manche schauen auch nur ruhig zu. Ein kleiner Rest entblößt sich gezielt bei der Station der Liliputbahn."
"Erika stiefelt, von der Dunkelheit angezogen, in die Wiesen hinein, die sich, durchzogen von Busch- und Waldwerk und Rinnsalen, hier ruhig breitmachen. Sie liegen einfach da und sie tragen Namen. Das Ziel ist die Jesuitenwiese. Bis dahin ist es noch ein schönes Stück zu wandern, Erika Kohut mißt es gleichmäßig mit ihren Wanderschuhen ab. Jetzt der Wurstelprater, Lichter blitzen fern auf und jagen rasch dahin. Schüsse knallen, Stimmen grölen siegreich. Jugendliche kreischen gemeinsam mit ihren Kampfgeräten in den Spielhallen oder rütteln schweigend an den Apparaten, die dafür ihrerseits umso lauter rattern, klingeln und klirren und Blitze schleudern.
"Doch ein Wirbelsturm erhebt sich in ihr, sieht sie am Pratersrand junge Männer mit jungen Körpern herumstreunen, denn altersmäßig könnte sie schon fast deren Mutter sein. Alles, was vor diesem Alter geschah, ist unwiderruflich vorüber und kann niemals wiederholt werden. Doch wer weiß, was die Zukunft bringt. Bei dem heutigen hohen Stand der Medizin kann die Frau bis ins hohe Alter hinein ihre weiblichen Funktionen ausüben. Erika zieht einen Reißverschluss hoch. Auf diese Weise sperr sie sich vor Berührung ab. Auch vor einer zufälligen Berührung. Doch im wunden Inneren grast der Sturm ihre noch saftigen Weiden ab. Wo die Taxis stehen, weiß sie genau, und sie steigt in das vorderste der Schlange ein. Vonden weiten Matten des Volkspraters ist nichts als ein wenig Feuchtigkeit an den Schuhen und zwischen den Beinen zurückgeblieben."
"Die Urania lässt einen Haufen Wissbegieriger aus einem Vortrag heraus, die sich herdenartig um den Vortragenden scharen und drängeln. Sie wollen noch mehr über das System der Milchstraße erfahren, obwohl sie eben alles gehört haben, was es zu hören gibt."
"Es wird heller, denn die Innenstadt naht, wo man mit Licht viel großzügiger umgeht, damit die Touristen leichter nach Hause finden. Die Oper ist schon aus. Das bedeutet in der Praxis, daß es so spät ist, daß Frau Kohut sen. in ihrem häuslichen Wirkungskreis, den sie nicht eher zum Schlafengehen zu durchbrechen pflegt, als bis die Tochter sicher und ganz zu Hause angelangt ist, fürchterlich herumtoben wird."
"Der mit den Schutthalden von Erikas Gedanken vollkommen Zugeschüttete folgt der Person, der seine Gefühle gelten, die Josefstädterstraße hinan. Früher stand hier das größte und modernste Kino Wiens, das jetzt eine Bank beherbergt. Erika ist mit ihrer Mama zur Feier eines Feiertags manchmal hingegangen. Doch meistens besuchten die Damen, um Geld zu sparen, das kleine billigere Albertkino."
"Ein giftiger Liebeszwerg, streift er durch diesen nächtlichen Erholungsraum, der eigentlich nur für den Tag gedacht ist, um sich an unschuldigen Tieren abzureagieren. Er sucth einen Wrufstein, findet jedoch nichts dergleichen. Er hebt einen kurzen Prügel auf, der von einem Baum abgefallen ist, doch das Holz ist morsch und leicht. Da eine Frau etwas Grausames von ihm gefordert hat, der ihr Liebe anbot, muß er sich fleißig bücken, um seine bessere Waffe als morsches Holz zu suchen. Da er der Frau nicht Herr werden konnte, muß er jetzt den Rücken krumm machen und unermüdlich Holz sammeln. Mit diesem Stöckchen lacht ihn der Flamingo aus. Es ist kein Prügel, es ist ein dürres Ästchen. Klemmer, der keine Erfahrung hat, aber Neues erleben möchte, kann sich nicht vorstellen, wo Vögel nächstens ruhen, um ihren Peinigern zu entgehen. Vielleicht haben sie eine eigene Hütte für sich allein! Hinter Rowdies, die viele Vögel schon erschlagen haben, will Klemmer keinesfalls zurückstehen. Er wittert Wasser, das ihm vertraute Element, nun schon stärker. Dort hält sich, wie in den Zeitungen beschrieben, die rosafarbene Beute irgendwo auf. Verschiedenes rauscht im Wind und hört nicht mehr auf damit. Helle Wegschlagen winden sich herum. Da er nun einmal so weit vorgedrungen ist, würde Klemmer sogar mit einem Schwan vorlieb nehmen, einem Tier, das sich leichter ersetzten läßt. An diesem Gedanken liest Klemmer ab, wie nötig er schon ein Ventil für seinen überkochenden Zorn braucht. Ruhen die Vögel untätig auf dem Wasser, wird er sie anlocken. Ruhen sie am Ufer still, muß er sich nicht nass machen.
Anstatt der Vogelrufe hört man nur ferne Autos in stetigem Strom dröhnen. So spät noch unterwegs? Bis hierher verfolgt die Stadt mir ihrem Lärm den Erholungssuchenden, bis in die städtischen Grünzonen, diese Lungen Wiens."
"Erika geht über freie Plätze vor Museen. tauben fliegen auf. Vor dieser Entschlossenheit! Touristen gaffen zuerst auf die Kaiserin Maria Theresia, dann auf Erika, dann wieder auf die Kaiserin. Flügel knattern. Öffnungszeiten sind angeschlagen. Die Straßenbahnen auf dem Ring gehen auf Ampeln los. Sonne flimmert durch den Staub. Hinter dem Gitter des Burggartens beginnen junge Mütter ihren Tagesmarsch, Die ersten Verbote werden auf Kieswege hinabgeschleudert. Von ihrer Höhe hinab tropfen die Mütter ihren Geifer. Anschwellendes Geheul, die Wunderwaffe, antwortet darauf. Allerorten verständigen sich jetzt zwei oder mehrere. Kollegen finden sich zusammen, Freunde geraten in Streit. Autofahrer rinnen energisch über die Opernkreuzung, weil die Fußgänger ihnen aus den Augen gegangen sind und sich nur mehr im Untergrund aufhalten, wo sie Schaden, den sie anrichten, selber verantworten müssen. Sie finden dort keine Sündenböcke: die Autofahrer. Geschäfte werden betreten, nachdem sie von außen ausführlich begutachtet wurden. Einige schlendern bereits ohne Ziel. Die Bürobauten am Rind schlucken Person um Person, welche sich mit Export und Import befaßt. in der Konditorei Aida sehen Mütter der geschlechtlichen Betätigung der Töchter ins Auge, die ihnen gefährlich verfrüht erscheint vom Beginn an. Sei preisen den Einsatz ihrer Söhne in Schule und Sport.
Die Verirrung eines leibhaftigen Messers umgreift Erika Kohut in ihrer Handtasche. Geht ein Messer auf die Reise oder wird sich Erika auf den Canossagang zu männlicher Verzeihung machen? Sie weiβ es noch nicht und wird es erst an Ort und Stelle entscheiden. Noch ist das Messer Favorit. Tanzen soll es! Die Frau steuert die Secession an und hebt frei das Haupt zur Blätterkuppel. Darunter zeigt ein stadtbekannter Künstler heute etwas, nach dem die Kunst nicht mehr sein kann, was sie vorher war. Von hier aus ist die Technik, der Gegenpol zur Kunst, schon ferne sichtbar. Erika muß nur noch die Kreuzung unterqueren und durch den Resselpark. Fallweise weht Wind. Stimmen jugendlicher Wißbegier häufen sich hier schon. Blicke streifen Erika, die sich ihnen stellt. Endlich streifen auch mich einmal Blicke, frohlockt Erika. Solchen Blicken ist sie Jahre um Jahre aus dem Weg gegangen, indem sie einhäusig blieb.
Doch was lange währt, wird endlich doch scharf hervorstechen. Nicht unbewaffnet setzt sich Erika den Blicken aus, braves Messer du.
Jemand lacht. Nicht jeder lacht so laut. Die meisten lachen nicht. Sie lachen nicht, weil sie außer sich selbst nichts anderes sehen. Sie bemerken Erika nicht. Gruppen junger Leute gerinnen aus dem flieβenden Strom heraus. Sie bilden Stoβtrupps und die Nachhut.
Engagierte junge Menschen machen entschlossen Erfahrungen. Sie sprechen andauernd darüber. Die einen wollen Erfahrungen mit sich machen, die anderen lieber Erfahrungen mit anderen, je nach Wunsch.
Vor der Fassade der technischen Hochschule auf Säulen die metallischen Männerköpfe berühmter Naturwissenschaftler dieses Instituts, die Bomben und Stauwerke erfanden.
Krötenartig hockt die riesige Karlskirche inmitten einer öden Wüstenei, in der ihr immerhin keine Autoabgase mehr drohen. Wasser sprudelt selbstsicher geschwätzig herum. Man geht rein auf Stein, außer im Resselpark, der eine grüne Oase vorstellen soll. Auch mit der U-Bahn kann man fahren, wenn man nur will."
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