Tacheles
“Ja”, beeilte sich der Diener mit einer Antwort, “er lässt höflichst fragen, ob sich der Herr Oberst nicht zum Tatort bemühen möcht, der was ganz in der Nähe ist. Vielleicht könnt der Herr Oberst dem Herrn Major ein paar wichtige Hinweise geben, hat der Herr Major g’meint.” “Und wo ist das Ganze passier?” Der Amtsdiener zögerte plötzlich, und es schien Bronstein, als begänne der Mann zu transpirieren. “Jetzt reden S’schon!” “Am… Judenplatz.” Auch das noch.
Mit langen Schritten durchquerte er die Innenstadt, ließ eilend Kohlmarkt, Graben und Rotenturmstraße hinter sich, um schließlich zum Schwedenplatz zu gelangen, wo er eine Straßenbahn der Linie N bestieg, die ihn direkt auf die Prater Hauptallee bringen würde. Er händigte dem Schaffner den Fahrpreis aus und setzte sich auf eine der Holzbänke. Nun erst begann er zu schwitzen denn ihm wurde bewusst mit welchem Tempo er diese Distanz zurückgelegt hatte.
Das “Schweizerhaus” war ein Familienlokal, in dem jene verkehrten, die eben ihre Kinder in den Wurstelprater ausgeführt hatten. Nach einigen Ohrfeigen für den Calafati, ein paar Lachern im Spiegelkabinett und ein wenig Gruseln in der Geistbahn war allemal eine Erfrischung angesagt. Sonst allerdinds saßen im “Schweizerhaus” nur alte, einsame Heeren - wie er einer war.
So gesehen war es vernünftiger, noch einen Marsch von leidlich drei Kilometern in Kauf zu nehmen um es sich sodann im Cafe “Lusthaus” bequem zu machen. Dort verkehrte die bessere Gesellschaft, und junge Damen waren dort wirklich junge Damen. Man konnte sie in aller Ruhe beobachten, ohne dass die Gefahr bestand, sich in eine peinliche Situation zu begeben. Ja, dachte Bronstein, es sprach viel dafür, noch ein wenig spazieren zu gehen.
Nachdem die beiden mit der Ringline zur Oper gefahren waren, stiegen sie dort in die Linie 61 um, die über den Karlsplatz und an der Bärenmühle vorbei nach Margareten fuhr. … “Da ist die Kettenbrückengasse, da müssen wir raus”, hörte Bronstein Cerny sagen, und kaum hatten sie das Gefährt verlassen, deutete Cerny schon in die Richtung, die sie nun einschlagen mussten.
Die Krongasse war von seiner Wohnung keine zwei Kilometer entfernt, und doch kam es ihm vor, als hätte er sich auf eine Weltreise gewagt, denn der Abend schritt unerbittlich voran, während er immer noch durch die Magaretenstrae schwankte. Er fühlte sich so ausgelaugt, dass er am Karlsplatz automatisch das Café Museum ansteuerte, um dort bei einem großen Braunen neue Kraft zu schöpfen.
Als es draußen dunkel, geworden war, musste er sich allerdings eingestehen, er war nicht hier wegen des Spiels der Könige. Er hatte schlicht Angst, in seine leere Wohnung zurückzukehren. Und so verließ er überaus zögerlich das Museum und ging hinter der Oper vorbei in die Kärntner Straße.
Obwohl es erst kurz nach elf Uhr war, machte sich Bronstein auf den Weg ins "Herrenhof". Er nahm dort seinen Stammtisch Platz und studierte in aller Ruhe die Speisekarte. Es entging ihm dabei nicht, dass sich der Kellner ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Jeder im "Herrenhof" kannte mittlerweile Bronsteins Rutal. Stets ging er die Speisekarte aufmerksam durch, um dann doch das jeweilige Tagesmenü zu bestellen. Diesmal kredenzte man ihm Fleischknödel mit Sauerkraut, die er mit großem Genuss verspeiste.
Eigentlich sollte er diesen Erfolg feiern, dachte Bronstein. An einem solchen Tag ging man nicht einfach nach Hause, nein, man gönnte sich ein feines Abendessen, denn wenn einem das Leben schon einmal zulächelte, dann lächelte man am besten zurück. Bronstein maschierte kurz entschlossen Richtung Innenstadt und strebte der Kärnterstraße zu. Die nächsten zwei Stunden tat er nichts anderes, als sich allen möglichen lukullischen Genüssen hinzugeben. Dabei hatte er wohl auch ein klein wenig zu viel an alkoholischen Getränken konsumiert, denn als er sich auf den Heimweg machte, da spürte er die Wirkung des Weins recht intensiv.
Das Erste, das Bronstein ins Auge fiel, als er die "Wiener Zeitung" vom Tage aufschlug war die Todesanzeige für den alten Demand. "Tieferschüttert geben wir bekannt, dass unser innigst geliebter, unvergesslicher Gatte, Vater, Schwiegervater, Großvater", stand da zu lesen, "uns am Sonntag, dem 1. Juli 1934, plötzlich inmitten seines ständigen Schaffens und wirkungsvollen Lebens durch den Tod entrissen wurde." Das haben sie aber schön gesagt, dachte Bronstein und unterdrückte ein Grinsen. Doch es kam noch besser: "Die entseelte Hülle des teuren Verblichennen wird in der Dr. karl Lueger Gedächtniskirche auf dem Wiener Zentralfriedhofe aufgebahrt, dortselbst Donnerstags, dem 5.Juli 1934, um 12 Uhr 10 feierlich eingesegnet und sodann auf demselben Friedhof nach nochmaliger Einsegnung in die Familiengruft zur ewigen Ruhe gebettet.
Zunächst zogen noch die monotonen Häuserschluchten der Vorstadtbezirke an ihm vorbei, das graue und trostlose Meidling, dann, ab Hetzendorf, wurde es etwas freundlicher, noch einmal Tristesse im Angesicht von Atzgersdorf und Liesing, um schließlich in die sanfte Hügellandschaft von Mödling, Guntramsdorf und Gumpoldskirchen, überzugehen.
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