Zwischen neun und neun
Lebhaft wurde das Geschäft erst nach acht Uhr, und gegen halb neun hatte Frau Püchl alle Hände voll zu tun. Kurz nach neun Uhr erschien die alte Frau Schimek, der die Ecktrafik in der Karl-Denk-Gasse gehörte, zu einem längeren Plausch.
Die Greislerin in der Wiesergasse, Frau Johanna Püchl, trat an diesem Morgen gegen halb acht Uhr aus dem Laden auf die Straße.
Hofrat Klementi machte mit seinem freunde, dem Professor Ritter von Truxa, und seinem Hunde "Cyrus" den täglichen Morgenspaziergang in den Liechtensteinerpark.
Hofrat Klementi ging langsam und hatte zudem die Gewohnheit, im Gespräche öfters, am liebsten in besonders belebten Straßen, stehenzubleiben; er schien sich nur als Verkehrshindernis wirklich wohl und behaglich zu fühlen. Selbst der durch heftiges An-der-Leine-Zerren zum Ausdruck gebrachte Unmut seines Hundes Cyrus, der den alten Herrn sonst grausam tyrannisierte und ihm in allem und jedem seinen Willen aufzwang, konnte gegen diese Schwäche des Gelehrten nichts ausrichten, und Professor Truxa hatte seine liebe Not, den Freund beim Überqueren der Porzellangasse glücklich aus dem Gefahrenbereich der elektrischen Tramway zu bringen.
Der Liechtensteinpark war um diese Zeit - es mochte gegen halb zehn Uhr vormittag sein - bereits ziemlich stark besucht. Kleine Mäderln und Buben liefen mit Reifen und Gummibällen über den Kiesweg, Kinderfräuleins und Ammen schoben plaudernd ihre Wägen vor sich her, Gymnasiasten sagten einander mit wichtigen Mienen ihre Lektionen vor. Die beiden Gelehrten strebten einer abgelegenen Stelle des Parkes zu, an der sie eine von alten Akazienbäumen beschattete und durch dichtes Gebüsch den Blicken der übrigen Parkbesucher entzogene Bank erwartete. Auf diesem Plätzchen pflegten sie allmorgendlich, unbeachtet und von dem lärmenden Treiben ringsumher nur wenig gestört, ein oder zwei Stunden der Durchsicht ihrer Manuskript- und Korrekturbögen zu widmen.
'Also, notieren Sie sich meine Adresse: Alice Leitner, bei Herrn Kaiserlichen Rat Adalbert Füchsel, neunter Bezirk, Maria Theresien-Straße 18. - Warum notieren Sie es nicht?'
'Wo wohnt deine Tante? In der Liechtensteinstraße vielleicht?' Sonja errötete. - 'Nein. In Mariahilf. Wie kommst du auf die Liechtensteinstraße?'
'Grüß Sie Gott, Demba! Wohin des Wegs? Warten Sie, ich komme ein Stück mit Ihnen.' Demba wartete. Willy Eisner kam herüber. Demba nickte ihm flüchtig zu. 'Was ist denn mit Ihnen? Sind Sie denn nicht mehr in Ihrer Bank, daß Sie vormittags spazierengehen können?' fragte er. Willy Eisner machte einen Zug aus seiner Zigarette und blies den Rauch von sich. 'Doch', sagte er. 'Glauben Sie, die Bank ließe mich gehen? Aber ich komme eben von der Börse. Ich hatte dort zu tun.'
Als sein Lebensideal schwebte ihm das Dasein eines Menschen vor, der morgens gemächlich seine Post durchsieht, dann ins Kaffeehaus geht und im bequemen Fauteuil zurückgelehnt, die Zigarette im Mund, ein Gläschen Likör vor ihm auf dem Marmortisch, das Straßengetriebe betrachtet. Der mittags zur Korsozeit auf dem Graben flaniert, gerade so lange, als es ihn freut, Bekannte sieht und gesehen wird, zu Freunden mit gelangweilter Miene ein paar Bemerkungen über die eleganten Damen macht, dann ohne Hast zu Mittag speist und schließlich nachmittags an seinem Schreibtisch ein paar wichtige Geschäfte erledigt.
Willy Eisner flunkerte gern. Er war ein keiner Beamter in der Zentralbank und in der Revisionsabteilung beschäftigt. Mit dem Börsengeschäft der Bank hatte er nichts zu tun. Er war vielmehr damit betraut gewesen, einen Kassenboten, der einen größeren Geldbetrag bei sich trug, auf seinem Gang zu begleiten, und hatte nach Erledigung dieses Auftrages der Versuchung, ein bißchen über die Ringstraße zu promenieren - die Glacéhandschuhe in der rechten, das Stöckchen in der linken Hand - nicht widerstehen können.
'Ich gehe jetzt in die Kolingasse', unterbrach ihn Stanislaus Demba. 'Das ist wohl nicht ihr Weg?'
'Gestern fragte mich der Baron Reifflingen - kennen Sie den Reifflingen? Ich speise manchmal mit ihm im Imperial -'
Zwischen halb zwölf und zwölf Uhr mittags, wenn die Essensstunde heranrückte, war es meist sehr still im Café Hibernia gegenüber der Börse. Das Heer der Handelsagenten, Firmenchefs und Börsenbesucher, die in den Vormittagsstunden das Lokal mit lärmendem Treiben erfüllten, die hier ihr Gabelfrühstück nahmen, ihre Geschäfte abwickelten, Konjunkturen erörterten, ihre Korrespondenz erledigten und dazwischen hindurch die Zeitungen studierten, durchblätterten oder wenigstens durch Herausreißen des Kurszettels entmannten, hatte sich nach allen Richtungen verlaufen. Das Nachmittagsgeschäft des Kaffeehauses, der Aufmarsch der Domino-, Billard-, Tarock- und Schachspieler begann erst nach ein Uhr. Der Kellner Franz, dem für diese Stunde auch das Ressort des Zahlmarkörs übertragen war - der 'Ober' war beim Mittagessen -, lehnte an einem Billardtisch, blinzelte schläfrig mit den Augen und kiebitzte den beiden einzigen Gästen, zwei Geschäftsreisenden, die ihre Strohmannpartie noch nicht beendet hatten. Das Fräulein an der Kasse pickte die Brösel einer angeschnittenen Linzertorte vom Teller auf. Stanislaus Demba trat ein.
'Lieber Gott! Warum! Ich habe eine Studie über die Idyllen des Calpurnius Siculus und seine Hapax legomena geschrieben. Eine Arbeit über ein paar argrarische Fachausdrücke, die dieser Calpurnius Siculus verwendet, deren Bedeutung strittig ist und die in der übrigen römischen Literatur nicht vorkommen. Dazu hab' ich gewisse Quellenwerke gebraucht. Ich bekam einiges aus der Universitätsbibliothek. Aber drei alte, wertvolle Drucke wollte mir der Kustos nicht nach Hause geben. Ich brauchte sie aber, und so trug ich sie einfach unter dem Mantel fort.'
'Ich erfuhr durch Zufall den Namen eines Bücherliebhabers in Heiligenstadt, eines Sonderlings, der halb Trödler, halb Sammler ist. Ich ging hin.'
'Ja. Also, wo war ich stehen geblieben. Die drei Bücher, richtig. Die beiden ersten hab' ich vor einem halben Jahr verkauft. Ich hatte Schulden. Ich trug sie in die Antiquitätenläden in der Johannesgasse und in der Weihburggasse.'
'Um zehn Uhr war ich nochmals bei ihr in ihrer Wohnung, aber sie war noch immer nicht zu Hause. Bis ein Uhr bin ich vor ihrem Haus auf und ab gegangen. Sie kam nicht, und als es eins wurde und sie noch immer nicht da war, sah ich ein, daß es keinen Zweck hatte, länger zu stehen. Der Weiner hat ein Absteigquartier in der Liechtensteinstraße, dort hätte ich warten müssen.'
'Die Sonja also hat vier Kaffeehäuser, in denen sie verkehrt. Zwischen neun und zehn ist sie meist im Café Kobra, dort verkehrt sie mit ein paar Malern und Architekten.'
'Ich bin nach Hause gegangen, hab' mich aber nicht zu Bett gelegt. Ich bin die ganze Nacht aufgeblieben und hab' in dem Buch gelesen. Von jedem kleinen Holzschnitt hab' ich Abschied genommen. Mein Herz hing an dem Buch. Und heute, zeitlich morgens, hab' ich's nach Heiligenstadt getragen. Der Händler wohnt in der Klettengasse 6. Man fährt durch die Heiligenstädter Straße, steigt bei der dritten Haltestelle aus, biegt in die erste Seitengasse links ein und hat dann noch etwa vier bis fünf Minuten zu gehen. Er wohnt in einem kleinen, zweistöckigen Vorstadthaus mit einer ganz schmalen Zwei-Fenster-Front. Obwohl ich schon vorher dort gewesen war, fand ich es lange nicht, erst, als ich zum drittenmal vorüberging.'
'Ja', sagte Demba. 'Bis auf die Handschellen. Das hab' ich dir doch gesagt, daß sie mir Handschellen angelegt haben, als ich zum zweitenmal auf den Alten losgehen wollte. Oben in seinem Zimmer an der Glastüre. Wie ich nun unten im Garten stand, beachtete ich sie anfänglich gar nicht. Es kam mir wirklich nicht zum Bewußtsein, daß ich gefesselt war, auch nicht, als ich mir den Rock abbürstete. Ich war frei. Ich konnte gehen, so rasch, als ich wollte und wohin ich wollte. Ich konnte verschwinden. Das war alles, was ich fühlte. Die Klettengasse war menschenleer. Ich dachte gar nicht daran, die Hände zu verstecken, so unvorsichtig war ich, so leichtsinnig. So gering wertete ich das Mißgeschick, das mich betroffen hatte, und die Gefahr, die in den Handschellen auf mich lauerte.'
'Ich trachtete nun, rasch aus dem Heiligenstädter Bezirk fortzukommen. Als ich an einem bettelnden alten Mann vorbeikam, blieb ich stehen und wollte ihm ein paar Kreuzer schenken.'
Frau Dr. Hirsch, die Gattin des Hof- und Gerichtsadvokaten in der Eßlinggasse, kam ein wenig außer Atem in das Privatkontor ihres Mannes. Sie ließ sich sogleich in den ledernen Klubfauteuil fallen, der, für Klienten bestimmt, neben dem Schreibtisch des Rechtsanwalts stand, stieß einen asthmatischen Seufzer aus und hielt ihrem Mann ein paar Banknoten hin.
'Bitte, reden sie selbst mit dem Müller und geben Sie mir dann die Hefte. Er wohnt Pazmanitenstraße elf.' Demba zitterte bei dem Gedanken, daß Gegenbauer auf diesen Vorschlag eingehen und das Geld wieder einstecken könnte.
Herr Kallisthenes Skuludis trat in das große Herrenmodegeschäft auf dem Graben ein und ließ sich von der Verkäuferin Krawatten zeigen. Er prüfte die einzelnen ihm vorgelegten Stücke mit Sorgfalt und Kennerschaft, warf die Bemerkung hin, daß er sich die Auswahl größer vorgestellt habe und daß man etwas wirklich Neues und zugleich Geschmackvolles in letzter Zeit nicht mehr zu sehen bekäme, und entschied sich schließlich für eine orangefarbene Krawatte aus schwerer, schillernder Seide, die er sich zu zwei anderen, schon vorher in anderen Geschäften erstandenen Stücken, in Seidenpapier einschlagen ließ. Nicht ganz befriedigt von seinem Einkauf, trat er auf die Straße.
Vor einer Stunde hatte er in der Praterstraße eine Unterredung sehr delikater Natur mit einem befreundeten Juwelenhändler gehabt, dem er Schmuckstücke jener Art, die man nur ungern dem grellen Licht des Tages aussetzt, zum Kaufe angeboten hatte.
Herr Skuludis sah an dieser unzarten Bemerkung mit Schmerz, daß Demba nicht die Umgangsformen der großen Welt besaß. Aber Ruhe und Selbstbeherrschung gehörten zu seinem Berufe, und er begnügte sich, seinen Gegner mit einem verächtlichen Blick zu messen. Gegenüber der Oper stand ein Polizist. Aber beide Herren schlugen ganz von selbst eine Richtung ein, in der auf tausend Schritte Entfernung weit und breit kein Wachmann zu sehen war. Und beide spähten, gänzlich unabhängig voneinander, nach einer Gelegenheit aus, der verfahrenen Situation eine neue Wendung zu geben.
Stanislaus Demba verließ den Omnibus und ging langsam die Mariahilferstraße hinunter.
Bleibt noch Dr. Becker. Da bekomm' ich das Geld ohne weiteres. Das sind vornehme und feine Leute, da brauch' ich nur ein Wort zu sagen, nur eine Andeutung zu machen, und ich hab' das Geld. Freilich, wenn ich sag', daß ich jetzt vierzehn Tage ausbleiben werde, das wird ihnen nicht recht sein. Der Junge steht miserabel in Geographie und Physik. Da muß ich einen zwingenden Grund für mein Ausbleiben angeben, einen Grund, der den Leuten sofort einleuchtet. Nun, es wird mir schon einer einfallen, ich hab' ja noch fünf Minuten zu gehen. Dr. Becker wohnte am Kohlmarkt im vierten Stock eines neuen Hauses. Neben dem Haustor über der Glocke hing seine Tafel: Dozent Dr. R. Becker, ordiniert von zwei bis fünf.
Die Frau Suschitzky, die ehemalige Heiratsvermittlerin, die in der Gegend zwischen der Augartenbrücke und dem Praterstern überall bekannt und jetzt zur Vermietung ungenierter Absteigequartiere übergegangen war, aber auch der Vermittlung kurzfristigerer Gelegenheiten nicht durchaus ablehnend gegenüberstand.
Dr. Rübsam war als erster gekommen. Er hatte nicht lang' warten müssen. Es regnete in Strömen, und früher als sonst fanden sich die andern zu der allabendlichen Bukidominopartie ein. In dem kleinen reservierten Zimmer des Café Turf, in das man durch eine sorgfältig verhängte und durch einem Pikkolo bewachte Tür eintrat, saßen heute elf Personen.
'Und jetzt nach Hause!' sagte Demba und blieb stehen. 'Wohin geh' ich denn? Es ist Zeit, nach Hause zu kommen! Miksch wird schon fort sein. Ich kann ruhig nach Hause. Es ist halb acht Uhr Steffi wird bald kommen, und ich werde endlich die Handschellen los.' Er bog in die Liechtensteinstraße ein, denn ers sah wirklich nicht ein, warum er sich durch diesen Herrn Weiner abhalten lassen sollte, auf dem kürzesten Weg nach Hause zu gehen. Daß dieser Herr Weiner gerade in der Liechtensteinstraße wohnte, das konnte kein Grund sein, um einen Umweg zu machen. Jede Minute war kostbar.
Als die beiden Polizisten - kurz nach neun Uhr morgens - den Hof des Trödlerhauses in der Klettengasse betraten, war noch Leben in Stanislaus Demba. Sie beugten sich über ihn. Er erschrak und versuchte, aufzustehen. Er wollte fort, rasch um die Ecke biegen, in die Freiheit - Er sank sogleich zurück. Seine Glieder waren zerschmettert, und aus einer Wunde am Hinterkopf floß Blut. Nur seine Augen wanderten. Seine Augen lebten. Seine Augen irrten ruhelos durch die Straßen der Stadt, schweiften über Gärten und Plätze, tauchten unter in der brausenden Wirrnis des Daseins, stürmten Treppen hinauf und hinunter, glitten durch Zimmer und durch Spelunken, klammerten sich noch einmal an das rastlose Leben des ewig bewegten Tages, spielten, bettelten, rauften um Geld und um Liebe, kosteten zum letztenmal von Glück und Schmerz, von Jubel und Enttäuschung, wurden sehr müde und fielen zu.
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