Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre
Mary war beim Teetisch gesessen, den Blick draußen in der kaum beginnenden Dämmerung eines Nachsommer-Abends. Man sah hier eine Gasse entlang und dann über den Donau-Kanal (der kein Kanal ist, sondern ein erheblicher, breiter und tiefer, rasch fließender Teil des Stromes) hinüber ans andere Ufer.
Dabei mußte er nun freilich in nächster Nähe von Marys Wohnung vorbeikommen, und so entstand bei ihm der Vorsatz, Frau Mary zu einer Kahnfahrt einzuladen, wobei man vorher in Nußdorf zum Wein gehen konnte, bei einem der verschwiegenen "Heurigen", die Negria so ziemlich alle schon kannte.
Im Augarten aber, bei den Tennisplätzen, in einer Sonne, die zusammen mit den Wasserdünsten der Donau die Luft milde und milchig erfüllte - so daß man, den Obstgeschmak des Herbstes im Munde die vergehende Zeit fast sinnlich spüren konnte, weli sie langsamer wurde und nahezu stand - im Augarten gelangte Oskar, am Ende sogar durch wiederholtes Experiment, zu einem Ergebnis am hellichten Tag und in der äußeren Welt, das ihn nahezu so befremdend anrührte wie das Beben der Angel im innersten Kerngehäus seines Lebenskreises.
Oskar sollte mit Geschäftsfreunden in der Stadt zu Mittag essen, und die Kinder waren von Verwandten zum Essen gleich nach der Schule und für den Nachmittag gebeten worden, in eine Villa in Döbling, ein Haus mit hervorragend schönem Park.
Aber die Substanz des Lebens gehorchte diesmal in Mary keineswegs einer scherzhaften Deklaration, unter welcher sie untergebracht werden sollte, sie weigerte sich dessen. Allein das ist der wahre Grund gewesen, waum Mary an diesem Vormittag nicht im schönen Liechtensteinpark spazieren ging, obwohl sie gerade das noch am Frühstückstisch sich gewünscht hatte, angesichts der vielen freien und verfgbaren Zeit.
Das Haus Numero vierundvierzig in der Wiener Porzelangasse ist (es steht noch) die eine Hälfte eines Doppelgebäudes, aus zwei ganz gleichen Häusern, die zusammen ein symmetrisches Gebilde ergeben, eine beängstigende Bau-Art.
Die Bekanntschaft mit dem ruhigen und bescheidenen Ehepaar machte sich von Seiten des Majors damals schon ein Amtsrat in der Generaldirektion der Tabakregie und ebenfalls in der Porzellangasse wohnend - einfach aus Affinität, wenn nicht Sympathie, un bei E.P. und sener Frau verhielt sich das wohl ebenso.
Der Major hat erst aus einem Gespräche, as am 22. August 1925 (ein Samstag) am unteren Ende der Strudlhofstiege stattfand - oder eigentlich begann, um späterhin des längeren fortgesetzt zu werden - erfahren, daß E.P. den René von Stangeler gekannt hatte. (Jene Strudlhofstiege zu Wien ist eine Treppen-Anlage, welche die Boltzmanngasse - erst in der Republik von 1918 wurde sie nach dem großen Mathematiker benannt - mit der Liechtensteinstraße verbindet und die Mitte des Teiles der "Strudlhofgasse" darstellt.)
Es erscheit denkbar, daß Renés Haltung, als er vor dem Franz-Josefs-Bahnhof am Sockel des Uhrtürmchens lümmelte, ohne jenen E.P.`schen Einfluß in irgendeiner Weise anders gewesen wäre.
Die Haltestelle der Straßenbahn, bei welcher sie nach Nußdorf einzusteigen gehabt hätte, war damals nur durch Überqueren des Platzes zu erreichen, noch dazu diagonal, nach links, wo in der Mitte eine Verkehrs-Insel Rast und Sicherheit bot.
Der Platz vor dem böhmischen Bahnhof, dem Franz-Josefs-Bahnhof in Wien, war damals mit der Zeit schon eine Art Rangierleiste der Straßenbahn geworden (ähnlich wie der Domplatz in Mailand), die von allen Seiten mit den verschiedensten Linien eintraf.
In der Teinfaltstraße unten tutete was. Der Sommertag, welcher Frau Mary vor dem Haustor um den Hals gefallen war, wurde ungefähr zu gleichen Zeit von E.P. sowie von seiner späteren Gattin druch Blicke aus dem Fenster wahrgenommen.
Dann nahm sie bald der Park auf: etwas geradlinig gestreckt in der Sonne und Windstille, man konnte meinen, es sei hier heißer als sonst in den Straßen. Das Augartenpalais stand rückwärts in einer Art von kulissenhafter Flachheit, ein wenig blendend unter dem blauen Himmel.
Er blieb durch einige Jahre zu Warschau im Ministerium und verstand es schließlich in der Wiener Alleegasse zu landen, die jetzt schon Argentinierstraße hieß, im Gebäude der polnischen Botschaft mit ihrer breiten Einfahrt, dem repräsentablen Stiegenhause in duklem Holz und dem seitlich nicht sehr ausgedehnten, aber tief nach rückwärts hineinlaufendem Garten.
Der Legationsrat Semski war ein Pole, der das Wienerische der guten Gesellschaft von ehemals sprach, Sohn eines polnischen Adligen, der Vater hatte dem österreichischen Diplomaten-Korps der kaiserlichen Zeit angehört, und so war denn der Sohn, Stephan hieß er, gleichfalls in seiner Jugend dort eingetreten, nämlich zunächst am Ballhausplatz in's Ministerium des Äußeren, nach dem üblichen Jus-Studium, ohen Doktorat, versteht sich, und dem einjährigen Kursus mit "Völkerrecht" und anderen Dingen, an die man heute lächelnd denkt.
Der Doktor Negria war inzwischen in eine zweischneidige Verbarrikadierung geraten, wie sich ein k.u.k. österreichischer Generalsstaboffizier einmal in Bezug auf eine ähnliche Situation ausgedrückt hat. Denn in dem großen Café am Nußdorfer-Platz, wo er Mary erwarten sollte, hatte sich eine Explosion ereignet, eine ganz lautlose, eine ganz subjektive für Negria nur - nun, man errät oder man errät nicht: es saß Eine dort; es saß Eine dort, die war für Negria wie das offenstehende Einfahrtstor zur Ruh' aller seiner Wünsche.
Der Doktor Negria war inzwischen in eine zweischneidige Verbarrikadierung geraten, wie sich ein k.u.k.österreichischer Generalsoffizier einmal in Bezug auf eine ähnliche Situation ausgedrückt hat. Denn in dem großen Café am Nußdorfer-Platz, wo er Mary erwarten sollte, hatte sich eine Explosion ereignet, eine ganz lautlose, eine ganz subjektive für Negria nur.
Zum zweiten dachte sie zurück bis zum Jahre 1910 und an die damals neu eröffnete "Strudlhofstiege" am Wiener Alsergrund, wo ihr vor kurzem angetrauter Gatte sie einmal ganz unvermittelt geküßt hatte, an einem warmen Herbstabend, da es nach den Blättern roch, die auf den steinernen Stufen lagen.
E.P. wartete auf Roserl in einer Conditorei, die es da an der Schottengasse gab, sie wollten noch rasch einen Kaffee nehmen und dann hinausfahren ins Grüne.
Von Nußdorf sind sie dann stromauf gegangen, gegen Kahlenbergdorf zu, um von dort aus auf steilem kurzen Weg die Höhe zu gewinnen unf nochmals die schwindende Sonne.
Unterhalb der Kais, noch lange vor dem Winterhafen ud dem sogennanten "Praterspitz", drückte Negria sein Fahrzeug ohne Steuerhilfe imer mehr nachrechts und schließlich nahe gegen das Ufer, wo sich ein bequemer Steg bot.
Sie hätte gerne alles erzählt, schlichthin alles: von damals angefangenm, als sie ihren Semski nicht hatte bekommen können, vor nun wirklich schon vielen, vielen Jahren bis zum heutigen Vormittage, wo ihr Ingrid Schmeller, sie sich jetzt als eine Frau von Budau schrieb, auf dem Graben begegnet war, nah der Ecke zum Stephansplatz, bei der Buchhandlung.
In Wien wird er ins Hotel "Belvedere" bei der Südbahn fahren, sich umziehen und den Rest seines Gepäcks mitnehmen,
Im "Pucher" verkehrte der Ballhausplatz. Wer dem Ministerium des Äußeren angehörte, dem war dieses verhältnismäßig schmale eingequetschte Café am Kohlmarkt nicht fremd.
Die flutende Sonne überreichlich jedwede bewegte Einzelheit mit Gold grundierend, die blaue Fahne des Himmels hochfliegend über dem Graben, und bei der Buchhandlung, an der Ecke, der Turm von St. Stephan wie mit einem Riesenschritte ins Bild tretend.
Klik-klak, die Hufe wirbelten. Eine schwere, duftende Wolke von Zigarrenrauch hauchte über den Gehsteig wie ein Gruß sämtlicher tropischer Inseln, und diese Wolke stieß unmittelbar mit einer anderen zusammen, welche den Blick hinter einer im Gewimmel verschwindenen Erscheinung nachzug: Bois des Iles, Holz der Inseln, Rauch der Inseln.
Er flanierte ein paarmal auf und ab. Es ging auf halb vier. Sein Entschluß, ins Café Pucher zu gehen, war nicht ganz feststehend.
"Wer fährt morgen mit von der Waisenhausgasse?", fragte Semski. Er meinte die Konsular-Akademie. Jene Gasse, wie schon angemerkt wurde, später ihren Namen verändert hat und nach einemfroßen Mathematiker bennant worden ist.
Auf dem Graben winkte er einem Fiaker. Beim "Stock im Eisen" wandt' er sich um, sah den hohen Dom im Gewimmel stehen und blickte dann nach vorwärts die Kärntnerstraße entlang gegen die Oper zu.
"Da hat man's", rief Editah, wandte sich gegen die Haltestelle der Autobusse beim Café de l'Europe zu und blieb dann ausspähend stehen.
Währenddessen war René an die Ecke der Strudlhofgasse gelangt und dort stehen geblieben.
So war Editha zwischen Melzer und Stangeler die Skoda-Gasse hinunter gegangen, langsam, wozu das Wetter jetzt einlud, die Luft war frisch und still, der Mond lag in Flächen an den Häusern und in Bahnen zwischen diesen in die Gassen fallend. Von der breiten, gestreckten und gleichmäßig hinabführenden Spitalgasse aus sah man noch einzelne absegelnde Wolken an dem rein gewordenen Himmel. Sie wandten sich zum Bürgerversorgungshause, welches damals noch stand - statt des Parks, den der zweite Weltkrieg dann verwüstet hat - nach rechts; und in die schmale Strudlhofgasse tauchten sie sozusagen ein, denn hier war alles tief im Schlagschatten und doppelt scharf im Mode, dessen Licht von den Dachkanten floß und in der Waisenhausegasse - jetzt hieß sie schon Boltzmanngasse - ausgebreitet lag.
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