Die Stadt ohne Juden
»Immerhin,« sagte der junge Lyriker Max Seider leise mit zitternder Stimme, »immerhin, Sie werden auch fern von der undankbaren Heimat sich wohl fühlen können. Berlin wird Sie mit offenen Armen aufnehmen, schon sind dort unter den Intellektuellen besondere Ehrungen für Sie geplant, und Sie sind so reif und stark, daß Sie mächtige Zweige werden treiben können, wo immer Sie sind. Aber was soll ich tun? Ich bin erst am Anfang, und ich kann nur leben und arbeiten, wenn ich durch das grüne Gelände des Wienerwaldes schlendere, wenn ich als Wegweiser die zierliche Silhouette des Kahlenberges vor mir sehe. Aus Ihnen strömt des Lebens Quelle in unerschöpflichem Maß, ich muß um jede Zeile, um jeden Vers mit mir ringen und kämpfen und das kann ich nur in Wien.«
Bei der Lona in der Gumpendorferstraße herrschte geradezu Panikstimmung. Acht junge Damen, eine schöner als die andere, waren schon versammelt und immer wieder mußte die dicke Wirtschafterin, Frau Kathi Schoberlechner, die Wohnungstür öffnen und ein Fräulein hereinlassen. Im Salon roch es außerordentlich kräftig nach Houbigant, Ambre, Coty, Rouge und Zigaretten, und es leuchtete und funkelte von hellblonden, rotblonden, schwefelgelben und schwarzen Haaren, Diamanten und Perlen. Alle waren in Spitzen und Seide gekleidet, nur die Lona trug einen duftigen Schlafrock, der vorn offen war, so daß ihr der schneeweiße Busen fast entquoll, und ihre nackten Füße steckten in roten Pantöffelchen.
Der Bundeskanzler, der auch Minister für auswärtige Angelegenheiten war und seine Wohnung im Auswärtigen Amte hatte, stand an einem milden Septembertag an der offenen Balkontüre und sah über die Straße hinweg auf das Getriebe des Volksgartens. Aber dieses Treiben schien ihm weniger lebhaft zu sein als in den vergangenen Jahren, die weißlackierten Kinderwägelchen rollten nur vereinzelt durch die Alleen, die Sesselreihen und Bänke waren trotz des warmen Wetters nur spärlich besetzt.
»Ich möchte Exzellenz noch darauf aufmerksam machen, daß der Wiener Gemeinderat mit großer Stimmenmehrheit beschlossen hat, den Schottenring in Dr. Karl Schwertfeger-Ring umzutaufen und daß seitens dreihundert österreichischer Gemeinden ähnliche Umtaufungen von Plätzen und Straßen beschlossen wurden. In Innsbruck hat sich sogar ein Denkmalkomitee gebildet, das Eurer Exzellenz im nächsten Jahr schon ein Denkmal aus Laaser Marmor errichten will.«
Weihnachtsabend im Hause des Hofrates Franz Spineder. Weit draußen in Grinzing, außerhalb der Endstation der Straßenbahn, lag das kleine, gelbe Backsteinhäuschen, das der Hofrat noch von seinem Großvater ererbt hatte. Von außen sah das einstöckige Haus mit dem großen grün gestrichenen Holztor und den grünen Jalousien fast primitiv aus, aber wenn man das Tor öffnete und in den Hof mit dem altertümlichen Ziehbrunnen trat, blieb man überrascht und entzückt stehen. Der Hof ging in einen sanft ansteigenden Garten über, der schier endlos war. Im Sommer leuchteten die Levkojen, Tulpen, Rosen und Nelken in südlicher Pracht, hinter dem Ziergarten kamen Hunderte von Bäumen, die unter der Last der Aepfel, Birnen, Aprikosen, Pflaumen und Kirschen sich tief zur Erde beugten, und wenn man auch die Obstbäume hinter sich hatte, so war man noch immer nicht am Ende des Gartens, sondern ging steil durch einen Weinberg, um endlich ganz oben auf ein altwienerisches Lusthäuschen mit bunten Scheiben zu stoßen.
Treffpunkt aller Züge war das Rathaus. In feenhafter Pracht lag der schöne, gotische Bau Meister Schmidts da. Millionen elektrischer Lichter ließen ihn wie eine einzige Flamme leuchten. Auf einer Tribüne spielten die unvergleichlichen Wiener Philharmoniker, von Juden gesäubert und daher ein wenig reduziert, volkstümliche Weisen, und der Wiener Männergesangverein bot seine besten Lieder dar. Die Volkshalle, der große Platz vor dem Rathaus, der Ring vom Schottentor bis zur Bellaria bildeten eine einzige Menschenmauer, und um acht Uhr war es kein Rufen mehr, sondern ein Heulen aus einer Million Kehlen, das immer wieder erdröhnte.
Mein Lieber, nun ist genau ein Jahr vergangen, seitdem ich Dir auf dem Westbahnhofe mit meinem von Tränen ganz durchnäßten Taschentuch nachgewinkt habe. Und das erste Weihnachtsfest, das ich als Deine Braut ohne Dich verbringen mußte, liegt hinter mir. Es war wieder recht traurig, und Papa meinte sehr besorgt, daß ich noch ganz krank und elend werden würde, wenn ich mich meinem Schmerz so hingebe. Ich bin jetzt nämlich immer sehr blaß, schlafe schlecht, habe viel Kopfschmerz und werde gleich so müde. Unser Hausarzt meint, es sei Bleichsucht und hat mir Guberquelle verordnet, aber ich weiß, daß es nur meine Sehnsucht nach Dir ist, die mich schwach und krank macht.
Also, von dem großen Jubel und den Festzügen am Silvestertage, als die letzten Israeliten Wien und Oesterreich verlassen hatten, wirst Du ja ohnedies alles aus den Zeitungen ersehen haben. Nun, den ganzen Januar hielt diese Stimmung an, die Leute machten alle fröhliche Gesichter, ein Festkonzert folgte dem anderen und immer wieder zogen die Massen vor das Rathaus oder das Kanzlerpalais, um dem Bürgermeister Laberl und dem Doktor Schwertfeger zu huldigen. Mir selbst ist es aufgefallen, daß die Wiener in der Elektrischen viel freundlicher und netter waren als vorher, und der Hofrat Tumpel, der bei uns verkehrt, Du weißt, der mit dem blonden Vollbart, den Du nie leiden mochtest, sagte triumphierend zu uns:
»Sehen Sie, das Wiener sonnige Gemüt, das so lange von all dem Fremden überschattet worden war, bricht sich wieder Bahn.«
Herr Habietnik ging düster, schweigend, mit gerunzelter Stirne durch die prunkvollen Verkaufsräume des großen Modehauses in der Kärntnerstraße, das einst Zwieback geheißen und jetzt den Namen Wilhelm Habietnik trug. Herr Habietnik war der erste Verkäufer in der Damenmaßabteilung gewesen, und mit Hilfe der Mittelbank deutscher Sparkassen war es ihm gelungen, bei der großen Judenvertreibung das Haus an sich zu bringen. Herr Habietnik ging nun, wie gesagt, von Saal zu Saal, wechselte in jedem ein paar Worte mit dem Rayonchef, sein Antlitz wurde immer finsterer und er stieß unwillige Rufe aus. Durch die ganz in Weiß und Rosa gehaltene Abteilung für Babywäsche schritt er, ohne sich aufzuhalten, in den entzückenden Konditoreisalon, der vollständig leer war, warf er nur einen schiefen Blick, dann stürmte er in sein Privatkontor und ließ sich den Prokuristen Smetana kommen.
Im Kaffee Imperial saß der Rechtsanwalt Dr. Haberfeld und schob die Zeitungen, die ihm der alte Zahlmarkör Josef gebracht hatte, unwirsch beiseite.
»Sie, Josef, leer ist es jetzt bei euch, daß man neben dem Ofen friert! Früher hat man mühsam sein Platzerl ergattern können und jetzt, jetzt könnt' man bei euch das Traberderby abhalten, weil eh' kein Mensch im Weg steht!«
Josef strich die ergrauten Bartkoteletten, machte tieftraurige Augen, wischte mit der Serviette über den Tisch und sagte sorgenvoll:
»Es geht eh' ein Ringkaffee nach dem andern ein, ich glaub', lang' wer'n mir's auch net mehr machen. Wissen S', Herr Doktor, was die Herren Israeliten – pardon, die Juden, waren, die sind halt alle gern in die feinen Lokale gegangen, wo was los ist und man was sieht. Aber die christlichen Herrschaften, die geh'n ins Vorstadtkaffeehaus und spielen ihr Tarock oder machen eine Billardpartie und gehen sonst lieber zum Heurigen oder ins Wirtshaus. 's ist halt eine andere Zeit jetzt!«
»Das merkt ein Blinder, der taubstumm ist«, brummte der Anwalt. »Sie, Josef, wir zwei kennen einander ja schon lange genug und brauchen uns keine Komödie vorzuspielen. Mir g'fallt halt die ganze G'schicht net! Wien versumpert ohne Juden!«
An einem schönen, sommerlich warmen Maimorgen kam vom Westbahnhof her ein Automobil vor das Hotel Bristol gefahren, dem ein eleganter, schlanker, dunkelhaariger Herr entstieg. Der Hoteldirektor musterte mit geübtem Blick den schweren Lederkoffer und das Handgepäck und dann erst den Fremden, dem ein kleines Knebelbärtchen im Verein mit dem aufgezwirbelten und in Wien sehr unmodernen Schnurrbart einen exotischen Anstrich verlieh. Südfranzose! taxierte der Direktor, rechnete rasch im Kopf französische Franken in Kronen um, und beschloß, dem erstaunlichen Resultat gemäß, den Zimmerpreis zu stellen. Auf die französisch vorgebrachte Frage, ob ein Zimmer frei sei, erwiderte er, ein ironisches Lächeln mühsam unterdrückend:
»Jawohl, Monsieur, ein einzelnes Zimmer gefällig oder ein Appartement mit Bad? Mit Aussicht auf den Ring oder nach rückwärts?«
Der Passagier ließ vor Erstaunen das eingeklemmte Monokel fallen.
»Ja, wie ist denn das? Früher konnte man doch ohne vorherige Anmeldung nirgends unterkommen!«
»Mein Herr,« seufzte der Direktor jetzt tief und ehrlich, »Sie waren wahrscheinlich anderthalb Jahre oder länger nicht mehr in Wien! Seither hat sich viel verändert!«
Ein eigenartiges Lächeln spielte um den Mund des Franzosen, der nun ausstieg und langsam zu Fuß die Währingerstraße entlang schlenderte, dann in die Nußdorferstraße einbog, mitunter vor einer Auslage kopfschüttelnd stehen blieb, die Preise der ausgestellten Waren zur Kenntnis nahm und so schließlich in die Billrothstraße kam, die im weiteren Verlauf nach den rebenreichen Vororten Sievering und Grinzing führt.
Ein Zettel am Haustor eines modernen Zinspalastes in der Billrothstraße fesselte seine Aufmerksamkeit.
»Kleine, elegant möblierte Wohnung mit Atelier sofort zu vermieten. Auskunft erteilt der Portier.«
Kurz entschlossen betrat Herr Dufresne das Haus und suchte den Portier auf, der ihn mittelst Lift nach dem fünften Stock führte und die Wohnung zeigte. Sie bestand aus einem Schlafzimmer, einem als Herrenzimmer eingerichteten Salon, an den sich ein atelierartiger, großer Raum mit Glasdach schloß. Auch ein Badezimmer war vorhanden.
»Wie kommt es, daß die Wohnung leer steht?«
»I, du meine Güte,« rief der Portier, »in Wien stehen jetzt an die zwanzigtausend Wohnungen leer! Diese da hat ein Architekt, ein Herr Rosenbaum, gehabt, der mit den anderen Juden fort mußte. Der Hausherr hat ihm die Möbel abgekauft, konnte aber bis heute keinen Mieter finden, weil keine Küche dabei ist.«
Nach weiteren fünf Minuten hielt der Portier einen Zehntausendkronenschein als Angabe in der Hand, und Herr Dufresne war Besitzer der Wohnung. Als er jetzt mit beschleunigten Schritten gegen Grinzing ging, wirbelte er vergnügt sein Spazierstöckchen in der Luft und murmelte vor sich hin: »Der Anfang ist gut, besser hätte ich es mit der Wohnung gar nicht treffen können.« Je näher er aber Grinzing kam, desto erregter wurde er, seine Wangen färbten sich rot und seine braunen lustigen Augen leuchteten wie im Fieber. Nun hatte er die Kobenzlgasse erreicht und seine Schritte wurden langsam, fast schleppend, wie die eines Mannes, der einem schicksalsschweren Augenblick entgegengeht. Vor dem Hause des Hofrates Spineder blieb er tiefatmend stehen und zog sich den grauen Kalabreserhut in die Stirne, daß man nur mehr seinen Knebelbart und das Kinn sah. Unschlüssig ging er auf und ab, mitunter nervös auf die Armbanduhr sehend, die auf halb zwölf wies. Gerade als er wieder vor dem grünen Tor stand, ging dieses auf und ein Dienstmädchen verließ das Haus. Und eben in diesem Augenblick, als das Tor offen stand, sah Herr Dufresne, wie von der links im Hofe gelegenen Wohnungstür ein junges, weißgekleidetes Mädchen mit goldblonden Haaren, die kein Hut verdeckte, in der Hand ein Buch, den Hof nach rückwärts durchschritt und den Garten aufwärts ging.
»Weißt, Alte, wir braucheten einfach ein paar jüdische Banken, das ist alles! Früher, als ich noch mein kleines Geschäft in der Stumpergassen gehabt habe, da bin ich alleweil, wenn ich im Ausland kaufen mußte, zum krummen Kohn von der Hermesbank gegangen, wo mein Konto war, und der hat gesagt: Herr Zwickerl, hat er gesagt, Sie müssen sich jetzt mit Mark eindecken, weil die Mark steigen wird; oder: die Krone wird fester kommen, hat er gesagt, kaufen Sie Kronen. Und immer ist es richtig so gewesen und ich hab' nicht nur an der Ware, sondern auch noch an der Valuta verdient! Aber jetzt – die Affen, die jetzt in der Bank beieinandersitzen, kennen sich selber net aus und i kenn' mi' auch net aus und alles geht kaput, sag' ich dir!«
Herr Zwickerl gehörte zu den vielen kleinen Geschäftsleuten, die durch das Antijudengesetz mächtig in die Höhe gekommen waren. Mit Hilfe der urchristlich gewordenen Länderbank hatte er, der kleine Dutzendkaufmann, das große Warenhaus in der Mariahilferstraße an sich bringen können, und das erste Halbjahr war alles eitel Wonne gewesen. Wenn Herr Zwickerl auf der Galerie des Kaufhauses stand und auf den Menschenschwarm hinabsah, kam er sich wie ein kleiner König vor und er berauschte sich ordentlich an dem Klingeln der Registrierkassen, dem Knistern der Seide und dem Stimmengewirr. Und allabendlich leerte er beim Nachtessen sein Weinglas auf das Wohl des Schwertfeger, und immer wieder sagte er zu seiner Frau, die jetzt nur mehr in Glacéhandschuhen kochte:
»Alte, da sieht man es am besten, wie uns die Juden ausgesaugt haben! Die Juden haben die großen Geschäfte gehabt und wir Christen konnten im finsteren Laden schuften und darben. Gottlob, daß das aufgehört hat!«
Aber schon die erste Semestralbilanz brachte dem Herrn Zwickerl arge Enttäuschung. Trotz der enormen Umsätze und des gefüllten Kaufhauses war von einem Gewinn keine Rede, immer wieder hatte man sich beim Einkauf im Ausland so oder so verspekuliert. Und mehr als einmal hatte Herr Zwickerl in sich hineingeseufzt: An ordentlichen Juden, wenn ich hätt', der was mich beraten tät'!
An einem herrlichen Junitag ging Leo Strakosch als Franzose Dufresne nach dem Stadtpark, um wieder einmal Fühlung zum Wien von heute zu bekommen. Sonst verließ er den neunzehnten Bezirk kaum, da er entweder in seinem Atelier arbeitete oder aber mit Lotte ausgedehnte Spaziergänge im Wienerwald unternahm. Als er heute nun zwischen den dichtbesetzten Tischen um den Kursalon herum spazierte, war er so belustigt, daß er laut auflachte.
»Um Himmels willen, was ist aus meinem schönen eleganten Wien geworden!«
Die Mode des Alpenkleides und Touristenanzuges schien allgemein geworden zu sein; so weit das Auge reichte, sah er alte und junge Herren in Loden, Kniehosen und mit dem grünen Steirerhütl auf dem Kopf. Und die Damen! Die Mehrzahl trug Dirndlkostüme, die ja im freien Gelände sehr nett und anmutend wirken, hier aber wie Karikaturen, wie schlechte Witze erschienen. Man war eben sehr bescheiden geworden, und vor allem bildete man ja eine einzige große Familie, war unter sich und hatte es nicht notwendig, sich »herzurichten«.
Die elektrische Straßenbahn, städtische Musik und Dirndln, die ein Lorgnon tragen – Leo schüttelte sich. Er eilte aus dem Stadtpark fort über die Ringstraße, fand auch das Bild, das die Kaffeehäuser boten, trostlos, grinste, als er wahrnahm, daß die meisten Leute einander mit »Heil« begrüßten und mußte lange suchen, bis er ein Autotaxi fand. Denn auch diese Mietwagen waren ein Luxus geworden, der so wenig Benutzer hatte, daß die meisten ihr Geschäft aufgaben.
Seltsame, mysteriöse Dinge ereigneten sich. Eines Morgens standen am Schottentor vor einer Litfaßsäule, desgleichen vor der Oper, am Stubenring und an anderen Plätzen Hunderte von Männern und Frauen vor kleinen, mit einem Reisnagel befestigten Plakaten im Oktavformat, die folgende Inschriften enthielten:
»Wiener, Oesterreicher! Rafft euch auf, bevor Ihr alle zugrunde gegangen seid! Mit den Juden habt Ihr den Wohlstand, die Hoffnung, die Zukunftsmöglichkeit ausgewiesen! Fluch den Volksverführern, die euch irregeleitet haben!
Der Bund wahrhaftiger Christen.«
Die Menschen lasen einander die frechen Worte vor, viele schimpften und behaupteten, daß Freimaurer das getan haben mußten, andere entfernten sich wortlos, wieder andere hatten den Mut, zustimmende Aeußerungen zu tun und die Anderssprechenden trotzig anzusehen.
»Ja, ja, es scheint, als wenn man da in einen höchst komplizierten Mechanismus allzu brutal eingegriffen hätte! Gewisse nicht zu unterschätzende jüdische Eigenschaften fehlen uns ganz bedenklich!«
Dazu ist allerdings zu bemerken, daß der Bruder des Hofrates die Buchhandlung in der Seilergasse besitzt, die sich nur mit dem Vertrieb von Luxusbüchern und Kunstdrucken befaßt. Seit die Juden weg sind, macht er gar keine Geschäfte mehr und sein Bruder, der Hofrat, hat schon zweimal große Summen opfern müssen, um ihn vor dem Bankerott zu bewahren. Und noch etwas, Leo: Ich halte doch immer, in der Früh', wenn ich einkaufe, und im Konzert und in der Oper und der Straßenbahn die Augen und Ohren offen. Und ich höre, wie die Leute immer mehr mit Wehmut an die Vergangenheit zurückdenken und von ihr wie von etwas sehr Schönem sprechen. »Damals, wie die Juden noch da waren«, das kann man täglich zehnmal in allen Tonarten nur in keiner gehässigen, hören. Weißt du, ich glaub', die Leute bekommen ordentlich Sehnsucht nach den Juden!
Im Januar vereinigten sich mehrere große Konsumentenorganisationen zu einer Massenversammlung in der Volkshalle des Rathauses unter der Devise: »Wir können nicht weiter!« Zehntausende von Menschen waren der Einladung gefolgt und trotz der außerordentlichen Kälte standen vor dem Rathaus ungeheure Menschenmassen, die in der Volkshalle nicht mehr Platz gefunden hatten.
Die Versammlung bot ein merkwürdiges Bild. Leo Strakosch, der sich ebenfalls eingefunden hatte, konstatierte, noch niemals so viele vollbärtige Männer gesehen und noch nie so viele Heilrufe gehört zu haben. Eine andere Staffage und man hätte an eine Tiroler Bauernversammlung zur Zeit des Andreas Hofer denken können. Auch Weiblichkeit war massenhaft vertreten, aber wahrhaftig nicht die lieblichste, die Wien aufzuweisen hat. Unter allgemeinem Heil-Gebrüll eröffnete der Apotheker Doktor Njedestjenski die Versammlung mit der Feststellung, daß es so nicht weitergehen könne. Er vermied es sorgfältig, die Notlage und Teuerung mit der Judenausweisung in Zusammenhang zu bringen, sondern gab sich höchst deutschnational und behauptete, nur die Tatsache, daß Oesterreich sich nicht an Deutschland anschließen könne, sei schuld an dem jammervollen Niedergang Wiens. Worauf ein Arbeiter unter schallender Heiterkeit dazwischen rief:
»Wir können uns ja gar nicht mehr anschließen, oder glauben Sie, daß die Deutschen auch solche Trotteln wie wir sind und ihre Juden hinausschmeißen werden?«
Leo, der fast nie Gelegenheit fand, mit irgend jemandem außer mit Lotte und seiner Aufwartefrau zu sprechen, hatte in der letzten Zeit zwei Bekanntschaften gemacht, die ihm wichtig dünkten. Die eine bestand in der Person des Nationalrates Wenzel Krötzl, die andere war der Inhaber des großen Modehauses in der Kärntnerstraße, Herr Habietnik.
Mit Krötzl war Leo auf folgende Weise bekannt geworden: Als er einmal spät nachts aus dem Kaffeehaus, in dem er die Zeitungen und Zeitschriften zu lesen pflegte, nach Hause gekommen war, fand er auf dem letzten Treppenabsatz einen stockbesoffenen Mann liegen, der jämmerlich weinte und sich vergeblich bemühte, aufzustehen. Leo half ihm in die Wohnung, die unterhalb seines Ateliers gelegen war und erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß er den ehrsamen Nationalrat Wenzel Krötzl vor sich hatte, seines Zeichens im Nebenberuf Häuserschieber. Nicht nur, daß dies auf dem Türschild vermerkt stand, Herr Krötzl schrie auch, während er hin- und hertaumelte, immerzu:
»Wann aner sagt, daß i b'soffen bin, so is er a jüdischer Gauner! I bin a g'wählter Nationalrat, an Abgeordneter und hab' fufzich Häuser zum verkaufen, die was früher denen Saujuden g'hört ham!«
Leo hatte dann im Laufe der Zeit Gelegenheit, zu erfahren, daß Herr Krötzl nicht nur einer der wütendsten Antisemiten sei, sondern auch ein notorischer Trunkenbold, der sich gewöhnlich schon am Büfett des Parlaments seinen Frühstücksrausch kaufte. Nebenbei hatte er eine gewisse Beredsamkeit und genoß infolge seiner derben Ausdrucksweise viel Popularität unter seinen Wählern. Er war Witwer und beherbergte von Zeit zu Zeit eine angebliche Wirtschafterin bei sich, mitunter solche, die knapp das straffreie Alter von vierzehn Jahren besaßen.
An diesem Tage wehte ein warmer Wind die letzten Schneemassen von den Abhängen der Wiener Berge fort und oben im Atelier in der Billrothstraße hielten sich zwei junge Menschenkinder heiß und sehnsuchtsvoll umfangen. Und er flüsterte:
»Oh, wärst du schon mein!«
Und sie erwiderte traumverloren:
»Wenn du dir schon den Knebelbart abnehmen könntest; er kitzelt so arg!«
Am Tage der Eröffnung der Nationalversammlung, also einen Tag vor der ersten entscheidenden Sitzung, besorgte Leo Strakosch, mit einem Handkoffer bewaffnet, allerlei Einkäufe. Bei Sacher kaufte er für einen phantastischen Preis, für den man einmal ein ganzes Ringstraßenhaus bekommen hätte, eine Straßburger Gänseleberpastete in der Terrine, im Hotel Imperial ließ er sich drei Flaschen eines köstlichen weißen Burgunders, drei Flaschen des schwersten und kostbarsten Bordeauxweines geben, außerdem eine Flasche uralten französischen Kognaks. Abends lauerte er dann vor dem Haustor dem Herrn Krötzl auf, der sich gerade nach der feierlichen Eröffnungssitzung des Hauses ins Wirtshaus begeben wollte, gratulierte ihm herzlich zu seiner Wiederwahl und sagte:
»Lieber Herr Nationalrat, ich möchte morgen auch der historischen Tagung des Hauses beiwohnen. Um elf ist der Beginn der Sitzung, also werde ich auf zehn Uhr mein Auto bestellen und Sie, wenn es Ihnen recht ist, mitnehmen.«
Herr Krötzl fühlte sich durch die Liebenswürdigkeit des vornehmen und, wie es schien, sehr reichen jungen Franzosen höchst geschmeichelt, er nahm die Einladung dankend an und fügte hinzu:
»Bin Ihnen sogar sehr verbunden, wenn Sie um zehn Uhr zu mir kommen, weil i' dann net riskier', zu verschlafen. Meine Wirtschafterin, das dumme Luder, vergißt am End' noch, mich zu wecken, und i' hab' an so schweren Schlaf, daß i die Weckuhr net hör'. Dös wär' aber a schöne G'schicht', wann i morgen verschlafen tät. Nachher hätten mir in vierundzwanzig Stunden die Saujuden, die verfluchten, wieder in Wien!«
Am Tage vorher hatte Leo mit dem Chauffeur eine wichtige Unterredung gehabt, die mit der Frage begann:
»Wollen Sie hundert französische Francs verdienen?«
Der Chauffeur hatte ungeheure Augen gemacht, war blutrot geworden und erwiderte keuchend:
»Herr, für hundert Francs führ' ich Sie auf den Mond!«
Aber der Franzose erwies sich als wesentlich bescheidener. Er erklärte, daß es sich um eine Wette handle und er nichts weiter zu tun habe, als vor dem Haus in der Billrothstraße zu warten, bis er, Monsieur Dufresne, mit einem voraussichtlich schwergeladenen Herrn einsteigen werde. Daraufhin habe das Auto stadtwärts bis zur Volksoper zu fahren, wo er aussteigen werde. Nunmehr müsse die Fahrt weiter bis zur großen Irrenanstalt am Steinhof, die weit außerhalb im Südwesten der Stadt liegt, gehen. Dort müsse der Chauffeur so lange stehen bleiben, bis sein betrunkener Gast sich melde. Und dann folgten weitere ausführliche Instruktionen für den intelligenten, lustigen Chauffeur.
Die weiteren Ausführungen Habietniks gingen in einer seltsamen Unruhe verloren, die sich über das Haus verbreitete. Was war geschehen? Nun, man hatte endlich auf der rechten Seite des Hauses entdeckt, daß der Nationalrat Krötzl nicht anwesend war, und eine Katastrophenstimmung bemächtigte sich der Christlichsozialen und Großdeutschen. Sie hörten nicht einmal ihren eigenen Kontra-Redner an, die Diener wurden mit Automobilen ausgeschickt, um Krötzl aus seinem Bureau in der Inneren Stadt oder aus der Wohnung in der Billrothstraße zu holen.
Noch wäre vielleicht die Situation zu retten gewesen, wenn man die Geistesgegenwart gehabt hatte, den Kontra-Redner zu veranlassen, stundenlang bis zum Eintreffen Krötzls zu sprechen. Aber man hatte total den Kopf verloren, der christlichsoziale Redner, Herr Wurm, kürzte, als er die Unruhe bemerkte und seine Genossen verschwinden sah, seine Rede sogar ab, und schon war ein bürgerlicher Antrag auf Schluß der Debatte und Abkürzung der weiteren Redezeiten auf fünf Minuten mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit angenommen.
Vergebens schrieen die überrumpelten Antisemiten Zeter und Mordio, der sozialistische Präsident waltete mit eiserner Energie seines Amtes, entzog jedem der wenigen schon vorgemerkten Redner nach fünf Minuten das Wort und unter enormer Spannung und allgemeiner Aufregung strömten die Abgeordneten wieder in den Saal, um bei der kommenden namentlichen Abstimmung anwesend zu sein.
»Posemukel ist eine Großstadt im Vergleiche zu Wien von heute. Wien ist ein ungeheures Dorf mit anderthalb Millionen Einwohnern geworden, und wenn wir die Juden nicht wieder hereinlassen, so werden wir es demnächst erleben, daß statt vornehmer Geschäfte in der Kärntnerstraße Jahrmarktsbuden stehen und auf dem Stephansplatz Viehmärkte werden abgehalten werden. Die Wiener sind in ihrem Tiefinnersten in Verzweiflung über diese Rückentwicklung, die sie nicht aufhalten können und nicht zuletzt haben die Wiener Frauen und Mädchen, indem sie die christlichsoziale Partei im Stich ließen, gezeigt, daß sie wieder ein blühendes, lustiges Wien voll Luxus, auch wenn es mitunter einen orientalischen Anstrich hat, haben wollen.«
Leo war von der Redaktion der »Arbeiter-Zeitung« aus tatsächlich direkt nach Grinzing gefahren. Lotte, die ebenso wie ihre Eltern von dem Verlauf der Parlamentssitzung bereits unterrichtet war, erwartete ihren Bräutigam am offenen Fenster im Parterregeschoß. Und als das Auto vorgefahren war und Leo sie erblickte, erschien ihm der Weg durch den Hausflur zu weitläufig, mit einem Satz schwang er sich auf das Fensterbrett und schon hielten die beiden jungen Leute einander lachend und weinend umschlungen. Da Leo aber trotz seiner turnerischen Gewandtheit bei seinem abgekürzten Eintrittsverfahren eine Fensterscheibe eingeschlagen hatte, was ein hörbares Klirren und Schmettern verursachte, kamen der Hofrat und seine Gattin aus dem nebengelegenen Wohnzimmer bestürzt herbei und blieben angesichts ihrer Tochter, die von einem fremden, knebelbärtigen Herrn unaufhörlich abgeküßt wurde, überrascht stehen. Bis der Hofrat so energisch zu husten begann, daß Lotte es vernahm und sich blutrot aus den Armen des Geliebten befreite, um ihn ihren Eltern vorzustellen:
»Papa, Mama, dies ist mein Bräutigam, Henry Dufresne…!«
»Recte Leo Strakosch«, lautete die Ergänzung und Leo warf sich auch schon dem Hofrat und dann seiner zukünftigen Schwiegermutter in die Arme.
Ein Automobil mit Herrn Habietnik, einem sozialdemokratischen Nationalrat und einem bekehrten Gemeinderat fuhr vor und die Herren teilten Leo mit, daß er unbedingt mit ihnen zum Rathause fahren müsse, um sich der dort versammelten Menschenmenge zu zeigen und eine Ansprache des Bürgermeisters zu erdulden.
Sträuben nützte nichts, Leo mußte mit, aber Lotte, die die Garantie dafür übernahm, daß sie rechtzeitig zum Abendessen zurück sein würden, fuhr mit ihm.
Bis zum Schottentor verlief die Fahrt ganz glatt, dann stellte sich ein Hindernis ein. Die Menschenmassen standen hier so dicht aneinandergedrängt, daß das Auto nicht vorwärts kam. Worauf sich der Gemeinderat hinausbeugte und in bester Absicht, wenn auch mit wenig Zartgefühl den Leuten zuschrie:
»Laßt's uns durch! Der Herr Leo Strakosch, der erste Jud, der wieder in Wien ist, muß zum Rathaus!«
Diese Worte waren das Signal zu einem stürmischen Jubelschrei, und das Auto konnte zwar nicht durch, sondern mußte hier mit Lotte warten, aber Leo saß auch schon auf den Schultern zweier handfester Männer und wurde unter dem Jauchzen und Johlen und Hurra-Geschrei der Massen zum Rathaus getragen.
Das schöne Rathaus war wieder illuminiert, sah wieder wie eine brennende Fackel aus und mühsam nur konnten sich die Männer mit Leo auf den Schultern Bahn machen. Fanfarenklänge, Trompetentöne, der Bürgermeister von Wien, Herr Karl Maria Laberl, betrat den Balkon, streckte segnend seine Arme aus und hielt eine zündende Ansprache, die mit den Worten begann:
»Mein lieber Jude!- - «
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