Die große Hitze, oder die Errettung Österreichs durch den Legationsrat Dr. Tuzzi
Zwar ist der österreichische Legationsrat, der da soeben über den staubigen Heldenplatz hinweg sich seinem Büro und einigen sehr merkwürdigen Ereignissen nähert, gewiß kein gewöhnlicher Mensch – so etwas kann wirklich nur jemand vermuten, der noch nie einem österreichischen Legationsrat Erster Klasse begegnet ist -, aber wichtiger als er werden die Dinge sein, mit denen er sich zu befassen haben wird.
Ich widme dieses Buch – ach, es gibt so viele, die ich noch zu nennen hätte, daß ich wohl noch ein anderes schreiben werde müssen, um alle Namen, derer ich in Freundschaft, Dankbarkeit und Verehrung zu gedenken habe, in gebührender Weise zu verzeichnen. Für diesmal muß es genügen, denn eben erreicht der Legationsrat Dr. Tuzzi die Mitte des Heldenplatzes und zieht unsere Aufmerksamkeit endgültig auf sich.
In den Nischen des mächtigen Architekturtunnels zwischen Neuer und Alter Hofburg haben sich muschel- oder seeigelartig allerlei kleine Geschäfte eingenistet, unter dem Wasserspiegel der Geschichte sozusagen; in der dortigen Tabaktrafik kaufte der Legationsrat seine tägliche Zigarettenration ein, zwanzig Memphis und zwanzig Gitanes, die er abwechselnd rauchte, zwischen der faden Milde eines leidlich sauberen Orienttabaks und afrikanischer Schärfe hin- und herwechselnd, was jedem Zigarettenraucher einen Einblick in die keineswegs spannungsfreie Seele dieses Mannes gestattet.
Über dem Heldenplatz lag dort, wo eigentlich der Himmel zu sein hatte, eine bläulichgraue Dunstplatte, die von einer unsichtbaren Sonne erbarmungslos aufgeheizt wurde. Gelegentlich fegten kleine Windstöße über den Platz, zu schwach, um den Dunst hinwegzufegen, genug stark, um Staub in entzündete Augen zu treiben, und so warm, daß es einem den Atem verschlug. Die Hitze hatte die Kastanien und den Flieder, soweit sie nicht ohnehin schon verdorrt waren, austreiben lassen und vorzeitig zu kümmerlicher Blüte gebracht; es war abzusehen, daß sie auch heuer wieder schon im Juni ihre Blätter verlieren würden.
Der Riesenkulisse der Hofburg freilich tat das fahle Licht gut. Es verwischte weich die Schatten in den Fensterlaibungen und zwischen den mächtigen Säulen, es überzog das imposante Halbrund mit flimmernden Schleiern, dunkelblauen an den Sockeln und Stiegen, hellblauen im Mittelgeschoß, fast weißen an den Attiken, auf denen Siegesgöttinnen den Lorbeer einer undeutlich werdenden, jedoch majestätisch gebliebenen Vergangenheit hochhielten. Die Hofburg schien in diesen Tagen größer und weiter geworden denn je und ihre ohnehin schon übertriebenen Perspektiven ins Unendliche auszudehnen.
Zweifelnd blickte der Legationsrat durch den Torbogen des Durchgangs hinein in den Inneren Burghof, und in sein Blickfeld trat die Figur eines, dessen Stehen am Scheidewege sprichwörtlich geworden ist. Warum, dachte Tuzzi haben die Bürokraten des österreichischen Barocks eigentlich eine solche Vorliebe ausgerechnet für den braven, aber doch in gar keiner Hinsicht scharfsinnigen Herkules gehabt, daß sie ihn in oder vor nahezu jedes größere Amtsgebäude gestellt haben? Weil er sich von jedem beliebigen die mühsamsten Arbeiten aufhalsen ließ?
Und damit war seine Entscheidung gefallen. Beschwingt entschwand Trotta in die Weite des Heldenplatzes, verdrossen beschritt der Legationsrat den Weg des Sisyphus.
Im Burghof hielt der gute Kaiser Franz seine schützende Hand über untreu gewordene Völker und verrichtete Herkules in vierfacher Ausführung ebenso viele Taten; aber das graue Licht, das den Bauten des Heldenplatzes so malerische Valeurs verlieh, bewirkte hier, im engeren Raum, das Gegenteil: Fade und hässlich wie Staub lag es über der schattenlosen Fassade der Reichskanzlei. Der Wachmann vor der Adlerstiege wischte das Schweißband seiner Kappe trocken. Tuzzi blickte zur Uhr im Türmchen des Amalientraktes auf: Erst Viertel nach acht. Viertel neun an einem Aptilmorgen, und so heiß! Wenn dieses Wetter anhielt, kam es schon im Mai, spätestens im Juni, zu einer Katastrophe mit Endgültigkeitscharakter.
Er überquerte den Ballhausplatz und erinnerte sich, daß gestern im Bundeskanzleramt der Ministerrat getagt hatte und die Überarbeitung des Kabinettsitzungsprotokolls sein Arbeitspensum beträchtlich vergrößern würde. Also beschleunigte er seine Schritte, nicht allzu heftig natürlich, sondern nur so, daß er einen kleinen Schweißausbruch eben noch vermied; solche Vorsicht war in diesen kreislaufgestörten Zeiten allgemeine Verhaltensweise geworden, auch vielfach ärztlich empfohlen. Doch nahm er sich auch heute die Zeit, ein paar Schritte von der schweigsamen Front des Haus-, Hof- und Staatsarchivs abzuweichen und einen kleinen Umweg durch die Spitzbogengallerie der Minoritenkirche zu machen. Dort nämlich, an der Südmauer dieser seit vielen Jahrhunderten von der italienischen Kolonie Wiens bevorzugten Kirche, sind Grabsteine aus einem aufgelassenen Friedhof angebracht, deren verwitterte Inschriften Tuzzi seit je in eigener Weise berührten:
THOMAE PVCCIO NOBILI FIORENTINO, der, als die Christen die Burg Gran angriffen, nach heftigem Kampf mit den Feinden die Seele Gott zurückgab, 40 Jahre alt im Jahre 1595 seit der Geburt des Herrn … MARCO ANTONIO RECASOLO, der sehr vornehme Florentiner, der aus einzigartiger Frömmigkeit für die Sache der Christenheit in das Kaiserliche Lager und wider die Türken zog … 21 Jahre, 10 Monate alt, starb er in Komorn am 1. November 1597 … AENEAE PICCOLOMINI, Herr von Sticciano in der Toskana, wurde im böhmischen Kriege im Lager des Kaisers getroffen im 33. Jahre seines Lebens am 16. August im Jahre des Heils 1619 … Seiner Gattin SUSANNA APOSSA ließ trauernd Johannus Paulus Fossatus aus Mailand dieses Grabmal errichten im Jahre 1589 …
Wir entscheiden uns als guter Österreicher für einen Kompromiß, indem wir es, während der Legationsrat eben die Straße neben der Minoritenkirche kreuzt, dem Leser überlassen, das folgende Zwischenkapitel zu lesen oder zu überschlagen, um auf S. 28 vor dem Eingang zum Interministeriellen Komitee Tuzzi wieder zu treffen.
Dann schritt der Legationsrat hinüber zum Eingang in die Büros des Interministeriellen Komitees, ergeben sich in sein Pflichtbewußtsein fügend, damit dem Prinzip Genüge leistend, dem schon seine Vorfahren gedient hatten.
In den letzten Jahren der Ersten Republik – also vor 1938 – trafen einander täglich gegen 17.30 Uhr im „Café Ministerium“ am Postsparkassenplatz drei hohe Offiziere aus dem nahen Kriegsministerium, um nach Dienstschluß eine Runde Preference zu spielen, ein Kartenspiel zu dritt, das sich besonders gut zur Entspannung eignet, weil es so langweilig ist.
Die Generalin hätte sich mit ihren Ohrfeigen möglicherweise bis zum Führer und Reichskanzler hinaufgearbeitet, wäre sie nicht endlich im Stiegenhaus des Gestapo-Quartiers am Morzinplatz nach einer Vernehmung gestrauchelt und solcherart zu ihrem Tode gekommen.
Als fromme Frau stiftete sie dem heiligen Antonius in der Alserkirche für jede geglückte Ohrfeige eine Kerze.
Infolgedessen scheint es uns, da wir noch ein wenig Zeit haben (denn noch hat Tuzzi, wie wir mit einem schnellen Seitenblick feststellen, die Gehsteigkante auf der anderen Seite des Minoritenplatzes nicht erreicht), sinnvoll, die Biographie des Legationsrates durch eine Liste seiner bisherigen Liebesbeziehungen zu erweitern und zu vervollständigen.
19-22jährig: Tuzzi und Sylvia besuchen gemeinsam die jüdische Fakultät der Universität Wien.
Wir müssen schleunigst auf den Minoritenplatz zurück, denn länger können wir den Schritt unmöglich verzögern, mit dem der Legationsrat das alte Palais betritt, in dem die Arbeit eines heißen Tages auf ihn wartet.
Das entsprach der am Ballhausplatz sorglich gepflegten Metternichschen Maxime, nicht Macht, sondern Einfluß habe das Mittel (und zugleich das Ziel) einer wohlverstandenen und vernünftig gehandhabten Politik zu sein.
Anders als am Morgen freilich, da der Anblick baukünstlerischer Höhepunkte seine Stimmung wenigstens vorrübergehend gebessert hatte, drückte ein architektonischer Nullpunkt sie jetzt erst recht nieder – jene Baulücke gegenüber der östlichen Ecke des Bundeskanzleramtes nämlich, die der Legationsrat umgehen mußte, um in die Schauflergasse zu gelangen. Über diesem leeren Grunstück scheint nämlich ein geschichtlicher Fluch zu liegen, der verhindert, daß es jemals gefüllt werde. Schon die Monarchie hat dort einen Verwaltungsbau errichten wollen, war aber nicht mehr dazu gekommen; ein ähmlicher Plan war in der Ersten Republik gescheitert, weil die Regierungen zu rasch wechselten; nach 1934, als Österreich sich eine autochthone und somit etwas bizarre Diktatur anschaffte, legte man immerhin den Grundstein zu einem „Haus der Väterländischen Front“, kam aber über diesen Grunstein nicht hinaus; Vielmehr wurde dieser durch einen anderen ersetzt, über dem etliche Gauleiter ein „Braunes Haus“ errichten wollten, was ihnen jedoch aus bekannten Gründen nicht gelang. Und seither hat noch jede Regierung der Zweiten Republik ebenfalls erfolglose Versuche unternommen, die Baulücke zu füllen. Auf welchen Augenblick wartet die Geschichte wohl, ehe sie es erlaubt, diesen häßlich leeren Platz mitten im imposantesten Teil der Stadt mit einem ebenso repräsentativen wie zweckmäßigen Gebäude zu versehen?
Am liebsten wäre er geradewegs in seine Junggesellenwohnung hinter der Ulrichskirche geflüchtet, hätte dort aus dem kleinen, mit Spiritus betriebenen Eisschrankl irgend etwas Eßbares herausgeholt, sich sodann von Kopf bis Fuß mit Franzbranntwein abgerieben (ach, wie schön wäre ein Bad! Ein Bad!) und sodann, bewegungslos auf dem Leintuch liegend, gewartet, bis das Schlafpulver die aus dem Büro nachhängenden Gedanken wolkenhaft auflösen würde.
Es fiel Tuzzi ein, die Michaelerkirche zu betreten, um dort, auf einem Betstuhl zwischen den dicken romanischen Steinbauern, ein paar erholsame Atemzüge zu tun. Aber leider wandte sich sein Auge, kaum daß er eingetreten war, einem hell erleuchteten Seitenaltar zu, der in sehr naturalistischer Weise die Qualen armer Seelen im Fegefeuer darstellte. Und das war entschieden zuviel und veranlasste Tuzzi zu schleunigstem Abgang durch den Seitenausgang.
Und jetzt trieb wie zum Hohn ein heißer Windstoß eine Staubwolke durch die Bräunerstraße und zwang Tuzzi, stehenzubleiben und sich die Augen zu reiben.
Sie wohnte in Nestroys Geburtshaus, einem geräumigen Gebäude mit einem schönen Innenhof voller kurioser Barockfratzen, in denen Bestialisches und Menschliches in manchmal lächerlicher, da und dort aber auch alptraumhafter Manier ineinander überging – ohne Zweifel der geeignete Ort zur Weckung sowohl satirischer wie satyrischer Anlagen in der Seele eines empfindsamen Kindes. Tuzzi selbst hatte Ulrike einmal diesen Hof mit seinen Geländern gezeigt, die vom Stiegenhaus zu den Wohnungstüren führen – und sie hatte sofort beschlossen, hier und nirgends sonst zu wohnen.
Indessen suchte Tuzzi nicht einen Arzt, sondern im Rudolfs-Krankenhaus den Patienten Twaroch auf, der aber nicht ansprechbar war, weil man ihn – eine in der Zeit der Großen Hitze recht häufige medizinische Praxis – in mehrtägigen Tiefschlaf versetzt hatte. Das irritierte Tuzzi zunächst, denn es schien ihm unkorrekt, seine Entschlüsse ohne vorhergegangene Rücksprache mit dem eigentlich Zuständigen in die Tat umzusetzen; aber die Überlegung, daß man einen ordentlichen Ärger nicht abflauen lassen darf, sondern im Interesse der eigenen Seelenruhe möglichst komplett an den Mann bringen muß, wog schließlich schwerer als persönliche und berufliche Taktgefühle, und so ließ sich Tuzzi kurzwegs zum Stubenring fahren, marschierte ins landwirtschaftsministerielle Präsidialbüro und begehrte kalten Tones vom dortamtigen Kommissär Dr. Tappeiner, beim Minister umgehend vorgelassen zu werden.
Schweren Herzens gekommen, um einen hoffnungslosen Auftrag abzulehnen, ging er, um einen hoffnungslosen Auftrag bis zum äußersten Punkt des eben noch Möglichen durchzuführen; und obwohl ihm der Weg, den zu beschreiten er sich nun so plötzlich entschlossen hatte, bestenfalls in der Intensivstation des Rudolfs-Krankenhauses, eher aber im Irrenhaus zu enden schien, ging er leichteren Herzens. Als er aus dem Regierungsgebäude trat – es hatte vor Zeiten das K. u. K. Kriegsministerium beherbergt -, hob er unwillkürlich den Kopf. Und sah über sich die Köpfe des mächtigen Doppeladlers und fühlte sich sonderbar getröstet, denn in diesem Augenblick schienen ihm die nach beiden Seiten der Welt spähenden Häupter des Adlers als ein Zeichen dafür, daß er auch jetzt noch den beiden Qualitäten der Legitimität und der Kontinuität diente, denen er durch Herkunft und Erziehung, durch Neigung und Charakter verpflichtet war.
Im Café Hawelka gibt’s einen älteren Herrn mit einer sehr interessanten Idee für eine gesamteuropäische Renaissance auf der Grundlage einer gräko-lateinischen Mischkultur, von dem Faktum ausgehend, daß die moderne Zivilisation sowieso eine Unmenge von griechischen und lateinischen Wörten verwendet, die jeder versteht: Hydrokultur zum Beispiel oder Sozialdemokratie, lauter griechisch-lateinische Wörter – also ich find' schon, daß sich da was drauf aufbauen ließe.
Und dann war er in seinem Arbeitszimmer kollabiert und ins Rudolfs-Spital in der Boerhaavegasse gebracht worden. Und dort wirst auch du demnächst sein, sagte Tuzzi stumm zu sich, während er im Spiegel der Toilette feststellte, daß er in der Tat fast so elend aussah, wie er sich fühlte.
Nicht recht wissend, wo er mit der Weiterverfolgung beginnen sollte, aber immerhin versuchend, den Twarochschen Hypothesen-Wahnsinn wenigstens methodisch in den Griff zu bekommen, suchte Tuzzi am folgenden Tage die Anthropologische Abteilung des Naturhistorischen Museums auf und trug dort einigen Spezialisten eine vorsichtig formulierte Abbreviation der Hypothese vor.
Tuzzi, schon jetzt nach Strohhalmen haschend, erinnerte sich eines Briefes, auf den Twaroch keine Antwort zu erhalten haben schien, und begab sich in das Innere der heimischen Volkskundeforschung.
Dieses Gespräch hatte im Volkskundemuseum in der Laudongasse stattgefunden; von dort ist es nicht weit zur Florianigasse, und wenn man dann in deren Richtung weitergeht, an Rathaus und Burgtheater vorbei, kommt man in einer knappen Viertelstunde zum Minoritenplatz und hat hinter sich gebracht einen hübschen Spaziergang selbst dann, wenn die Temperatur so ist, wie sie in jenen Tagen war.
Der Gedanke, nach diesem unfruchtbaren und auf lächerliche Weise demütigenden Gespräch gleich wieder den Anblick der Twarochschen Akten erdulden zu müssen, zwang seine Schritte geradezu in die demonstrativ entgegengesetzte Richtung, die Lange Gasse hinunter und dann rechts in die Universitätsstraße hinein. Das Allgemeine Krankenhaus, niedrig und langgestreckt, schräg gegenüber einer Kirchenfront mit zwei grünen Barockzwiebeln – in Tuzzi stiegen Kindheitserinnerungen auf: das war die Alserkirche, in der seine Mutter den heiligen Antonius zu verehren pflegte. Er war seither, mehr als drei Jahrzehnte lang, wie er berechnete, nicht hierhergekommen, aber noch während er das kalkullierte, führten ihn seine Füße auf den längst bergessen geglabten Kindheitsweg neben dem Hauptportal in den Gang hinein, an dessen Ende die Antoniuskapelle im Licht vieler kleiner Kerzen schimmerte. Es herrschte geräuschloses, aber emsiges Gebetstreiben, denn die Kapelle war überrarschend gut besucht. Tuzzi sah gebeugte Knie, andächtig geschlagene Kreuzzeichen und unhörbare Gebete mumelnde Lippen. Diese Begegnung mit einer bescheidenen Frömmigkeit rührte ihn, und er versuchte ernsthaft, sich das Gesicht seiner Mutter in Erinnerung zu rufen, wie sie, nach ihren heroischen Ohrfeigenverleihungen S. 149 , hier gekniet und in gesammelter Andacht auch die Lippen bewegt hatte. Aber es gelang ihm nicht, und das Erinnerungsbild zerann, kaum daß es in seinem inneren Auge halbwegs Kontur angenommen hatte, im flackernden Kerzenschein. Und die gipserne Statue des heiligen Antonius hatte leider eine unverkennbare Ähnlichkeit mit einem zazarenisch veredelten Ministerialrat Dr. Twaroch. Tuzzi schlenderte, nicht erleichtert, durch den anschließenden Kreuzgang, dessen Wände von einer langen und offenbar bisweilen erfolgreichen Heiligenverehrung zeugten, denn einige Wände waren dicht bekleidet mit gleichförmigen Marmortafeln, steinernen Beglaubigungen gnädiger Heiligenhilfe. Die meisten stammten noch aus den Zeiten der Monarchie und sagten ihren Dank in vielen Sprachen: Dzienkuje, sv. Antonius, Grazie, San Antonio, Danke, heiliger Antonius, vielen Dank und hilf weiter, Köszenem szépen, Szent Antal. Es gab aber auch Tausende Inschriften jüngeren und jüngeren Datums, an weiße Mauerteile mit Bleistift und Kuli, auch mit Lippenstiften hingekritzelte Stoßgebete aus großer Leib- und Seelenbedrängnis. „Heiliger Antonius, bitte hilf mir, laß mich nicht mit meinem Kind stehn, führe ihn zur Einsicht, ich halte es so nicht mehr aus“, stand da und „L. H. Antonius, hilf mir doch zu einem Baby!“ und kaum eine Spanne weiter in anderer Schrift: „Heiliger Antonius, gib, daß ich kein Kind krieg'!“ Die Nähe des großen Krankenhauses und des Landesgerichtes machten sich in vielen Hilferufen geltend: „Hilf mir, ich ertrage den Schmerz nicht länger“ und „Bitte, schütze mich in meinem Prozes daß ich nicht schuldig gesprochen werden, bitte filmals“.
Der Gedanke, nach diesem unfruchtbaren und auf lächerliche Weise demütigenden Gespräch gleich wieder den Anblick der Twarochschen Akten erdulden zu müssen, zwang seine Schritte geradezu in die demonstrativ entgegengesetzte Richtung, die Lange Gasse hinunter und dann rechts in die Universitätsstraße hinein. Das Allgemeine Krankenhaus, niedrig und langgestreckt, schräg gegenüber einer Kirchenfront mit zwei grünen Barockzwiebeln – in Tuzzi stiegen Kindheitserinnerungen auf: das war die Alserkirche, in der seine Mutter den heiligen Antonius zu verehren pflegte. Er war seither, mehr als drei Jahrzehnte lang, wie er berechnete, nicht hierhergekommen, aber noch während er das kalkullierte, führten ihn seine Füße auf den längst bergessen geglabten Kindheitsweg neben dem Hauptportal in den Gang hinein, an dessen Ende die Antoniuskapelle im Licht vieler kleiner Kerzen schimmerte. Es herrschte geräuschloses, aber emsiges Gebetstreiben, denn die Kapelle war überrarschend gut besucht. Tuzzi sah gebeugte Knie, andächtig geschlagene Kreuzzeichen und unhörbare Gebete mumelnde Lippen. Diese Begegnung mit einer bescheidenen Frömmigkeit rührte ihn, und er versuchte ernsthaft, sich das Gesicht seiner Mutter in Erinnerung zu rufen, wie sie, nach ihren heroischen Ohrfeigenverleihungen S. 149 , hier gekniet und in gesammelter Andacht auch die Lippen bewegt hatte. Aber es gelang ihm nicht, und das Erinnerungsbild zerann, kaum daß es in seinem inneren Auge halbwegs Kontur angenommen hatte, im flackernden Kerzenschein. Und die gipserne Statue des heiligen Antonius hatte leider eine unverkennbare Ähnlichkeit mit einem zazarenisch veredelten Ministerialrat Dr. Twaroch. Tuzzi schlenderte, nicht erleichtert, durch den anschließenden Kreuzgang, dessen Wände von einer langen und offenbar bisweilen erfolgreichen Heiligenverehrung zeugten, denn einige Wände waren dicht bekleidet mit gleichförmigen Marmortafeln, steinernen Beglaubigungen gnädiger Heiligenhilfe. Die meisten stammten noch aus den Zeiten der Monarchie und sagten ihren Dank in vielen Sprachen: Dzienkuje, sv. Antonius, Grazie, San Antonio, Danke, heiliger Antonius, vielen Dank und hilf weiter, Köszenem szépen, Szent Antal. Es gab aber auch Tausende Inschriften jüngeren und jüngeren Datums, an weiße Mauerteile mit Bleistift und Kuli, auch mit Lippenstiften hingekritzelte Stoßgebete aus großer Leib- und Seelenbedrängnis. „Heiliger Antonius, bitte hilf mir, laß mich nicht mit meinem Kind stehn, führe ihn zur Einsicht, ich halte es so nicht mehr aus“, stand da und „L. H. Antonius, hilf mir doch zu einem Baby!“ und kaum eine Spanne weiter in anderer Schrift: „Heiliger Antonius, gib, daß ich kein Kind krieg'!“ Die Nähe des großen Krankenhauses und des Landesgerichtes machten sich in vielen Hilferufen geltend: „Hilf mir, ich ertrage den Schmerz nicht länger“ und „Bitte, schütze mich in meinem Prozes daß ich nicht schuldig gesprochen werden, bitte filmals“.
Der Gedanke, nach diesem unfruchtbaren und auf lächerliche Weise demütigenden Gespräch gleich wieder den Anblick der Twarochschen Akten erdulden zu müssen, zwang seine Schritte geradezu in die demonstrativ entgegengesetzte Richtung, die Lange Gasse hinunter und dann rechts in die Universitätsstraße hinein. Das Allgemeine Krankenhaus, niedrig und langgestreckt, schräg gegenüber einer Kirchenfront mit zwei grünen Barockzwiebeln – in Tuzzi stiegen Kindheitserinnerungen auf: das war die Alserkirche, in der seine Mutter den heiligen Antonius zu verehren pflegte. Er war seither, mehr als drei Jahrzehnte lang, wie er berechnete, nicht hierhergekommen, aber noch während er das kalkullierte, führten ihn seine Füße auf den längst bergessen geglabten Kindheitsweg neben dem Hauptportal in den Gang hinein, an dessen Ende die Antoniuskapelle im Licht vieler kleiner Kerzen schimmerte. Es herrschte geräuschloses, aber emsiges Gebetstreiben, denn die Kapelle war überrarschend gut besucht. Tuzzi sah gebeugte Knie, andächtig geschlagene Kreuzzeichen und unhörbare Gebete mumelnde Lippen. Diese Begegnung mit einer bescheidenen Frömmigkeit rührte ihn, und er versuchte ernsthaft, sich das Gesicht seiner Mutter in Erinnerung zu rufen, wie sie, nach ihren heroischen Ohrfeigenverleihungen, hier gekniet und in gesammelter Andacht auch die Lippen bewegt hatte. Aber es gelang ihm nicht, und das Erinnerungsbild zerann, kaum daß es in seinem inneren Auge halbwegs Kontur angenommen hatte, im flackernden Kerzenschein. Und die gipserne Statue des heiligen Antonius hatte leider eine unverkennbare Ähnlichkeit mit einem zazarenisch veredelten Ministerialrat Dr. Twaroch. Tuzzi schlenderte, nicht erleichtert, durch den anschließenden Kreuzgang, dessen Wände von einer langen und offenbar bisweilen erfolgreichen Heiligenverehrung zeugten, denn einige Wände waren dicht bekleidet mit gleichförmigen Marmortafeln, steinernen Beglaubigungen gnädiger Heiligenhilfe. Die meisten stammten noch aus den Zeiten der Monarchie und sagten ihren Dank in vielen Sprachen: Dzienkuje, sv. Antonius, Grazie, San Antonio, Danke, heiliger Antonius, vielen Dank und hilf weiter, Köszenem szépen, Szent Antal. Es gab aber auch Tausende Inschriften jüngeren und jüngeren Datums, an weiße Mauerteile mit Bleistift und Kuli, auch mit Lippenstiften hingekritzelte Stoßgebete aus großer Leib- und Seelenbedrängnis. „Heiliger Antonius, bitte hilf mir, laß mich nicht mit meinem Kind stehn, führe ihn zur Einsicht, ich halte es so nicht mehr aus“, stand da und „L. H. Antonius, hilf mir doch zu einem Baby!“ und kaum eine Spanne weiter in anderer Schrift: „Heiliger Antonius, gib, daß ich kein Kind krieg'!“ Die Nähe des großen Krankenhauses und des Landesgerichtes machten sich in vielen Hilferufen geltend: „Hilf mir, ich ertrage den Schmerz nicht länger“ und „Bitte, schütze mich in meinem Prozes daß ich nicht schuldig gesprochen werden, bitte filmals“.
Ein altes Palais in der Dorotheergasse. Ein langer dämmeriger Gang mit offenen Türen, die in verhangene oder fensterlose Räume führten. An den Wänden dunkle, nur ungefähr wahrzunehmende Portäts ernstblickender Männer.
Sie werden es vielleicht nicht glauben: aber ihre Adresse hat man mir im Erzbischöflichen Sekretariat gegeben.
Er sagt, es handelt sich um ein Gespräch, das Sie dieser Tage in der Dorotheergasse geführt haben, Herr Legationsrat.
In dem Zusammenhang fällt mir ein, daß schon Johannes Kepler den Eingang in die Unterwelt im Niederösterreichischen vermutet hat. Allerdings hat er sie mehr im Prater vermutet, aber natürlich, im 17. Jahrhundert hat man halt noch nicht so präzise Rechnungen anstellen können.
Du hast mich doch kürzlich einmal, im Hofburgdurchgang, gefragt, ob ich glaub', daß der Sisiphus Vergnügen an seiner Arbeit gehabt hat.
Im Akademietheater proben sie gerade ein neues Stück von ihr, der Sauerwein macht Regie. Und in Stixneusiedl hat sie ein Landhaus. Warst du schon in Stixneusiedl?
Dieses Malheur, nämlich im Handumdrehen von einem sauberen Legationsrat in eine graugelb überpuderte Hadesfigur verwandelt zu werden, widerfuhr dem Dr. Tuzzi just, da er in die Gasse einbog, in der Frau Atropijan wohnte, eine Straße aus dem Vormärz, mit würdevoll ernsthaften Häusern, wie sie hinter dem Heumarkt zu finden sind. Eben noch lag die Häuserzeilenperspektive klar und übersichtlich vor ihm – im nächsten Moment war sie verdeckt von einer gelbbraunen Wolke, die mit Windeseile daher und über Tuzzi hinwegfuhr, viel zu schnell, als daß er sich noch in ein Haustor hätte flüchten können.
Na ja halt so. - Übrigens gibt’s in dem Viertel da wirklich ein paar ganz exquisite Architekturspezialitäten. Wenn du dann heimgehst, schau dir drüben in der Mondscheingasse das Haus Nr. 3 an. Sowas Irres hast bestimmt schon lange nicht gesehn. Unten wächst das Haus aus einem riesigen Stukkaturbaum heraus, die Yggdrasil vermutlich, oben droben sind dann ungeheure Löwenköpfe – kein Vergnügen für Leute, die in derselben Höhe vis-à-vis wohnen. Und dieses Haus zieht sich irgendwie, aber man weiß nicht genau, wie, hinüber bis in die Kirchengasse. Dort brüllen die Löwen dann in die Gegenrichtung. Oder weiter unten, an der Ecke Stiftgasse und Siebensterngasse, das Eckhaus – dort hocken am Dachfirst die risiegsten Greife, die du je erblickt hast. Warum schaust mich denn so an?
Wie ich sechs oder sieben Jahre alt war, hat meine Großmutter im Café Eiles Bridge gespielt und mich manchmal auf ein Soda mit Himbeeren mitgenommen.
Hättest du was dagegen, wenn ich – weil du ja selbst meinst, ich sollt' ein bissel aktiver sein – und übermorgen ist Premiere im Akademietheater: Soll ich deine Ulrike einladen?
Hoffentlich nicht zu lang. - Wie war's denn im Akademietheater?“ „Gar nicht. Der Sauerwein, du weißt schon, der Regisseur, ist knapp vor der Generalprobe krank geworden. Nierenkolik. Wahrscheinlich hat ihm die Atropijan in sein Regiekonzept dreingeredet. Das kann sie nämlich.“ Tuzzi fiel die Wachspuppe in den Händen der Atropijan ein – hatte nicht der Sauerwein eine auffallend vorspringende Nase? „Und so ist die Premiere im letzten Augenblick verschoben worden“, sagte Trotta. „ich bin halt statt dessen mit deiner Ulrike in den 'Rauchfangkehrer' essen gegangen. Dir ist das doch hoffentlich recht, oder?
Hat jahrzehntelang in Indien gelebt und verkündet jetzt in der Akademie am Stubenring die Weisheit des Ostens.
Unterwegs aber fiel ihm Trotta ein, und also hieß er den Chauffeur einen Umweg in die Burggasse machen. Das Haustor war noch offen, aber es brannte in keinem Fenster Licht. Tutti läutete eine Weile an Trottas Tür, doch meldete sich niemand. Das Taxi setzte seine Fahrt zu Tuzzis Adresse fort, aber als es vor seinem Haus hielt, überlegte sich's der Legationsrat noch einmal und fuhr weiter in die Bräunerstraße. Aber auch Ulrike war nicht zu Hause.
Unterwegs aber fiel ihm Trotta ein, und also hieß er den Chauffeur einen Umweg in die Burggasse machen. Das Haustor war noch offen, aber es brannte in keinem Fenster Licht. Tutti läutete eine Weile an Trottas Tür, doch meldete sich niemand. Das Taxi setzte seine Fahrt zu Tuzzis Adresse fort, aber als es vor seinem Haus hielt, überlegte sich's der Legationsrat noch einmal und fuhr weiter in die Bräunerstraße. Aber auch Ulrike war nicht zu Hause.
Der Prälat in der Wiener Erzdiözese hatte nicht übertrieben: Die Große Hitze hatte wirklich das Volk zu neuer Frömmigkeit veranlasst – oder auch nur die vielleicht immer noch vorhandene Gläubigkeit wieder freigelegt.
In Tuzzi blitzt bei diesem Anblick eine Kindheitserinnerung auf: Ähnliche, wenn auch nicht so schöne Drachenköpfe haben früher einmal im Wurstelprater mit Kindern besetzte Wägelchen in das Wachsfiguren-Märchenreich der Grottenbahnen gezogen.
Trotz aller Fremdartigkeit haben diese Röhren in Tuzzis Augen Ähnlichkeit mit den labyrinthischen Gängen des Bundeskanzleramts oder des Regierungsgebäudes am Stubenring.
Book with similar publication date: Repertorium: ein Begreifbuch von höheren und niederen Lebens-Sachen by
Nearby fragment: pp 237 from Jessica, 30 by