Verführungen
Helene stieg zu Alex in den Wagen. Stumm saß sie neben ihm. Fragte nicht, wohin er denn fahre. Vor einem Haus in der Prinz Eugen Straße, weit oben, fast schon beim Südbahnhof, parkte Alex das Auto. Helene ließ sich aus dem Wagen helfen.
Nadolny war nicht gut aufgelegt. Er verlangte sofort Kaffee. Und Helene mußte eine kleine Flasche Underberg aus der Greislerei um die Ecke in der Czernigasse holen. Das war ein schlechtes Zeichen. Sonst war das Fläschchen Underberg erst um 5 am Nachmittag fällig.
Helene kaufte einen Bund Tulpen in der Blumenhandlung am Ring. Auf dem Weg in die Ferdinandstraße. Ins Büro.
Helene hatte auf dem Weg vom Büro nach Hause eingekauft. Beim Meinl auf der Gymnasiumstraße war ein kranker Mann beim Ausgang gestanden. Der Mann war graugelb im Gesicht gewesen. Schweiß lief ihm über das Gesicht. Troff auf seinen Hals. Der Mann schluckte. Ununterbrochen krampfte sein Hals in Schluckbewegungen. Dazwischen rang er nach Atem. Er stand an die Wand gelehnt. Die Hände gegen die Wand gepreßt. Er rutschte die Mauer hinunter. Stützte sich wieder weiter oben ab. Seine Hände hinterließen dunkle Flecken auf der schmutzigweißen Wand neben dem Packtisch.
Sie hatte in der Sternwartestraße geparkt. Sie hörte die Sirenen des Rettungswagens. Wie immer mußte sie beim Hören der Sirene fast weinen. Ein Schluchzen drückte sich gegen die Kehle. Im Auto auf dem kurzen Weg in die Lannerstraße verstand sie mit einem Mal, warum der Mann sich so gegen die Wand gepreßt hatte. Und sich nicht hatte hinlegen wollen. Er hatte sich in die Hose gemacht. Helene blieb lange vor dem Haus im Auto sitzen. Das Schluchzen preßte sich von innen gegen das Brustbein. Als hätte sie ein zu großen Apfelstück verschluckt.
Der Schwede rief im Büro an. 'Ein Herr Ericson', sagte Frau Sprecher. 'Er sagt, er ruft aus Mailand an.' Ob Helene am Samstag Zeit habe? Ja? Er werde da wieder in Wien sein. Um 8 Uhr. Im Café Sacher. Er freue sich. Um diese Zeit sei das Café vollkommen leer, und man könne gemütlich reden. Und dann essen gehen.
Helene brachte das Balmain-Kleid in die Expressputzerei Stross auf der Prater Hauptstraße.
Anfang Jänner hatte sie ihre Scheckkarte abholen wollen. Sie war wie sonst zur CA-Filiale in der Schottengasse gefahren und an den Schalter gegangen, an dem sie die Angestellte flüchtig kannte. Die Frau sah in einem Ordner nach und sagte ihr dann, es wäre nichts da für sie.
Das Café Sacher war leer. Helene war pünktlich. Sie nahm eine Neue Zürcher vom Haken beim Eingang und setzte sich unter das Porträt der Kaiserin Sissi. Sie bestellte einen Campari Orange, begann in der Zeitung zu blättern und wartete. Sie dachte, sie sähe gut aus. Das Kleid half.
'Soll ich kommen?' fragte sie. 'Außerdem. Sie müssen etwas essen. Wenn sie sich schwach fühlen, dann müssen Sie etwas essen.' 'Ja', erwiderte er. Ja. Sie solle kommen. Er sei im Hotel Elisabeth. In der Weihburggasse. In der Kaisersuite.
Es hatte geregnet, während Helene im Sacher gewartet hatte. Die Lichter spiegelten sich auf dem nassen Asphalt vor dem Hotel. Glänzten auf dem nassen Pflaster der Kärntner Straße. Helene schlug den Mantelkragen hoch und vergrub ihre Hände in den Manteltaschen.
Der Schwede stand plötzlich angezogen da. Er ließ die Schultern hängen. Aber sonst schien er normal. Sie gingen aus dem Hotel. Langsam. Sie bogen in die Singerstraße und gingen zu den 3 Haken. Helene dachte auf dem Weg sie hätte ihn lieber lassen sollen.
Auf dem Weg ins Hotel wollte der Schwede noch kurz ins Santo Spirito. Helene mußte ihn an seine Leiden erinnern. Sollte er sich nicht besser schonen. Helene wollte nicht in dieses Lokal. Sie hatte Sorge, Püppi oder sonst jemand könnte da sein. Und sie mit dem Schweden gesehen werden.
Die Schuhe wurden naß, und Helene fuhr mit den Kindern nach Wien zurück. Sie hätten ihre Eltern in Hietzing auf dem Heimweg besuchen sollen. Die nassen Schuhe waren ein Grund, diesen Besuch nicht zu machen.
In der Volksschule in der Cottagegasse saß Helene auf einem Kinderbänkchen auf dem Gang. An der Wand hingen Kinderzeichnungen. Schneemänner starrten von den Blättern. Jeder Schneemann hatte eine Karotte als Nase. Jede Karotte ragte nach links. Helene fiel ein, wie sie als kleines Mädchen im Kindergarten die Sonne auf ihren Zeichnungen in der Mitte gemalt hatte. Sie konnte den Finger auf ihrem Zeichenblatt noch sehen, wie die Nonne ihr bedeutet hatte, die Sonne in die Ecke zu zeichnen.
In der Operngasse draußen stauten sich die Autos. Blieben vor einer Ampel stehen. Setzten sich wieder in Bewegung. Glitten am Fenster vorbei. Wurden schneller. Sausten vorbei. Wurden wieder schneller.
Helene traf den Schweden im Café Museum. WIe beim ersten Mal. Helene wußte nicht, ob er in Wien geblieben war. Oder schon wieder aus Mailand gekommen.
Helene hatte das Auto am Schillerplatz stehen. Sie gingen hin. Sie redeten nichts. Im Auto dann.
Das Licht fiel von hinten auf ihn. Sie konnte ihn nicht genau sehen. Autos bogen vom Rennweg auf den Schwarzenbergplatz. Sie dröhnten über das Katzenkopfpflaster. Der Schwede hielt Helene an den Ellenbogen. Er sah auf sie hinunter. 'Ich dachte. Wir. Ich meine...' Helene wurde elend. Sie hatte vollkommen vergessen. Diese Frage kam. Irgendwann. Und unvermeidlich.
Sie lagen eine Stunde herum. Kicherten. Dösten. Dann beschlossen sie, sich anzuziehen. Sie gingen in den Türkenschanzpark. Spuren in den Schnee machen, bevor er schmolz.
Katharina saß still im Auto. Helene nahm die Johnstraße. Sie versuchte, mit Katharina zu reden. Das Kind gab nur kurze Antworten. Oder schwieg.
Nach dem Essen fuhr Helene in die Lannerstraße zurück. Sie hatte Katharina umarmt. Hatte sie mitnehmen wollen. Hatte sie im Arm halten wollen. Das Kind war an ihrem Hals gehangen. Die Beine um Helenes Taille geschlungen. 'Mein kleiner Klammeraffe', hatte sie dem Kind ins Ohr geflüstert. 'Ruf mich an. Wenn irgendetwas ist. Ich hole dich sofort ab.'
Helene kam in seinem Schlafzimmer in der Wohnung von Freunden wieder zu sich. Sie waren in die Hofmühlgasse gefahren. Die Wohnung war im 2. Stock. Sie waren die Stiegen hinaufgegangen. Hatten weiter geredet. Den ganzen Abend hindurch hatten sie ununterbrochen miteinander geredet.
Helene hatte gleich bei der Begrüßung gesagt, Gregor könne nicht kommen. Niemand hatte reagiert. Wegen Gregors Mutter. Auch. Helenes Mutter hatte versucht, mit ihr allein zu sprechen. Aber Helene war die Flucht gelungen. In der Lannerstraße waren die Kinder dann über die Wohnung hergefallen. Die makellose Wohnung war in Kürze wieder ein Chaos. Die Kinder laut und glücklich.
Nach dem Büro fuhr Helene auf den Markt auf dem Sonnbergplatz. In der Obkirchergasse. Sie kaufte dort Obst und Gemüse beim Gemüsehändlerehepaar Leonhard. Fleisch bei dem Fleischhauer, bei dem Thomas Bernhard seinen Schinken gekauft hatte. Wie der Fleischhauer immer wieder erzählte.
Sie fuhr mit dem Auto. Sie wollte keine anderen Leute neben sich. Eingeschlossen in ihr Auto, schlich sie mit der Kolonne über die Brücke bei der Urania. Über den Ring. Die Operngasse. Und die linke Wienzeile hinaus. Schon auf der Brücke verfiel Helene in tiefe Abwesenheit.
Helene wollte flüchten. Büromaterial. Es müsse dringend Büromaterial gekauft werden. Sie ging ins Café Prückl. Sie aß ein kleines Gulasch und trank ein Bier. Würde sie nun zur Trinkerin? Das Bier war gut gegen dieses elende Gefühl im Hals. Helene versteckte sich hinter der Süddeutschen Zeitung. Einen Augenblick atmete sie nur vor sich hin und schloß die Augen. Vielleicht ginge es ihr wirklich besser, wenn sie etwas zunähme. Das Gulasch hatte sie gegessen, weil man essen mußte. Und sie sonst das Bier nicht vertragen hätte. Also doch Trinkerin. Auf dem Rückweg ins Büro kaufte Helene Büromaterial. 3 Großpackungen Büroklammern.
Montagnacht rief Püppi an. Es war halb zwölf. Helene lag schon im Bett. Döste. Püppi fragte, ob Helene nicht kommen wolle. Sie gingen alle ins Café Alt Wien. Püppi klang wie früher. Als sie noch in der Veltlinergasse gewohnt hatte, Sophie großziehen und malen hatte wollen. Bevor der Philosophieprofessor aus Graz aufgetaucht war.
Helene kannte die Frau vom Sehen. Sie war Lehrerin und erzählte jedem, wie ihr Mann sie prügelte. Helene hatte sie einmal auf der Wollzeile auf allen vieren kriechen sehen. Am Ende einer Nacht.
Helene war froh, die Kinder abgeholt zu haben. Die Vorstellung, die Kinder über die Hasenauerstraße gehen lassen zu müssen, ängstigte sie jedesmal. Kein Autofahrer fuhr auf dieser Straße weniger als 80 Stundenkilometer. Und keiner blieb stehen, die Kinder über die Straße gehen zu lassen. Helene selbst fuhr dort so schnell.
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